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glück und nicht aus allzu grosser Ruhe hervorzugehen pflegt. Die deutschen protestantischen Kirchen haben denn auch wieder neuerdings festere Stellung nach oben und nach unten genommen. In ersterer Beziehung war ein Markstein die Einweihung einer protestantischen Kirche in Speyer, wo im Jahre 1529 der Name «Protestanten» entstand. Von allen deutschen Fürsten, die damals diese Verbindung gründeten, war kein Nachkomme bei der Feier erschienen, und auch der deutsche Kaiser nicht, der sonst nicht leicht irgendwo fehlt. Dennoch setzte wenig. stens sein würdiger Hofprediger Dr. Dryander die Bedeutung des Tages in folgender Weise richtig in's Licht:

«Die Bedeutung des Tages von Speyer liegt darin, dass zum ersten Male ausgesprochen wurde: «in Glaubens. sachen entscheiden nicht Majoritäten; es gibt über allen geschriebenen Rechten ein höheres Recht, das Gewissen, und es muss jedem freistehen, von dem geschriebenen Recht an die höhere Macht, an Gott zu appelliren.» Das hatten jene Männer acht Jahre vorher von dem kühnen Mönch vom Wittenberg gelernt. Sie wollten sichergestellt sehen die Freiheit des Gewissens und den Appell an Gott wider weltliche Autoritäten. Das haben sie uns und der Welt damals erobert. Das in Gott gebundene Gewissen hat sich zum freien evangelischen Bekenntniss durchgerungen. In dem Bekenntniss der Hoffnung liegt die Siegeszuversicht unserer Kirche, es liegt aber auch darin die Pflicht des Protestes gegen alles, was diese Erkennt. niss verdunkeln will. Ist Christus allein das Heil der Welt, dann hinweg mit all den Vermittlern, die sich zwischen ihn und die Welt stellen wollen. Die Zeit ist ernst, ein ungeheurer Abfall von den Glaubensgütern der Reformation geht durch unser Volk, so dass die Frage nicht ganz unberechtigt ist: Wird unser Volk ein christliches bleiben? Es ist aber andererseits auch nicht zu verkennen, dass gleichzeitig ein tiefes religiöses Bedürf niss durch das Volk geht.»

Der gegenwärtige Krieg wird diese Klärung und deutlichere Ausscheidung von Gut und Böse noch mächtig befördern. Die Japanesen sind jetzt mit ihren zu Tage getretenen Eigenschaften und daherigen Erfolgen das Musterbild eines von Religion unbehelligten Volkes geworden und es kann dabei etwa Goethe die bisherige Stelle von Christus einnehmen, wie es wirklich ein neues Buch verlangt.')

Nicht weit davon entfernt sind Aeusserungen Naumann's über sein Verhältniss zu Darwinismus und Politik, worüber der Basler «Kirchenfreund» vom 22. April folgendermassen referirt:

<<Naumann hat bekanntlich früher eine spezifisch christliche Behandlung aller politischen und sozialen Fragen verlangt und bei jeder wichtigeren Gesetzesvorlage angeben wollen, wie Jesus gestimmt hätte, wie also der Christ zu stimmen habe. Er bekennt nun offen, von dieser Auffassung gänzlich zurückgekommen zu sein. <<Was Jesus bietet, ist die Kindschaft Gottes in Galiläa.» «Ich habe auch zu denen gehört, die Galiläa nach Westeuropa verpflanzen wollten.» «Es gab eine Zeit, wo auch

1) Kjölmson «Vom Glück und dem neuen Menschen.» Darin wird u. A. postulirt: Eine Vereinigung, welche die Aufgabe hat, Wanderlehrer für Goethes Lebensauffassung her anzubilden; Massenwanderung nach Weimar zum jährlich um Pfingsten von der Goethegesellschaft in Berlin veranstalteten Goethetag. «Das Goethe'sche Lebensideal wird der Reprä sentant des neuen Menschenideals!» . . . «Das höchste Ziel und Streben der deutschen Nation muss werden, Goethe'scher Mensch zu sein, also Mensch mit Goethe'scher Innerlichkeit, das ist der richtige neue Mensch. Es muss ein neues junges Deutschland mit Goethe'scher Seele entstehen. Dies ist der Gipfelpunkt der Gesammtentwicklung des deutschen Volkes. Goethe muss allmählig der heimliche Kaiser der Mensch heit werden. Zu diesem Ende muss Nachfolgendes geschehen: <1) muss die Pflege des Schulwesens auf naturwissenschaftliche (evolutionistische) Unterlage gestellt werden. Es muss

ich jedes Wort Jesu unmittelbar auf uns anwenden wollte. Jesus sagt: Wenn du ein Gastmahl machst, so lade die Bettler und Krüppel! Man übertrage dies direkt in unsere Verhältnisse! Er sagt: Sorge nicht für den morgenden Tag und frage nicht: was werden wir essen, was werden wir trinken! Was aber sagt unsere Volkswirthschaftslehre und was bringen wir unsern Kindern bei? Jesus sagt: verkaufe was du hast und gib es den Armen! Wer will aber verkaufen, um seinen Acker oder seine Fabrik in Almosen zu verwandeln? Ist es nur unseres Herzens Härtigkeit und angeborene Sünde, wenn wir das Alles nicht wörtlich ausführen? Ja, würde es ein Glück für irgend Jemanden sein, wenn wir es thäten? Dürfen wir es wollen?>» << Bei uns gehört Rechnen und Erwerben zu den sittlichen Pflichten». <<Wir wollten Jesum einfach als hohen und obersten Anwalt moderner Wirthschaftsbestrebungen verwenden. Jedesmal aber, wenn wir nun ernstlich versuchten, bestimmte Forderungen aus seinem Evangelium abzuleiten, versagte es. Das Evan-gelium war eben galiläisch.>>

ein neuer Gedankeninhalt in unsere Seele geschüttet werden, die Goethe'sche Innerlichkeit hat in der Goethegesellschaft eine Priesterschaft gefunden. Ganz Deutschland muss alljährlich zur hörenden Kirche gehören, dieser Tag muss ein nationaler Wallfahrtstag im grossen Style werden. Die Geburtshäuser und Grabstätten der hervorragendsten Verkünder und Verbreiter des neuen Lebenshauptzieles Goethe obenan müssen unsere Wallfahrtsorte und ihre Bildnisse unsere Heiligthümer sein. Dies alles besteht jetzt noch nicht. Daraus kann man ersehen, wie weit wir in der Hauptkulturthätigkeit noch zurück sind. Wer kein Verehrer Goethes ist, für den sollte, wie Grillparzer sagt, kein Raum auf deutscher Erde sein.>>

In Japan soll schon davon die Rede gewesen sein, Haekels «Welträthsel» als religiöses Schulbuch einzuführen. Derselbe wird noch eine ergänzende Schrift «Lebenswunder» veröffentlichen, die dann fortan, nebst den Welträthseln, das Evangelium der Ungläubigen in deutschen Landen bilden kann. So lange alles gut geht nämlich; nachher wird man schon zum «galiläischen» zurückkehren, das mehr Trost im Unglück bietet.

<<Entweder alles ist Liebe oder alles ist Kampf. Entweder man versteht die Welt nur aus Selbsterhaltungsinteressen, oder nur aus Mitgefühlen. Es gibt keine einigermassen erträgliche logische Vermittlung zwischen beiden Gedankenreihen. Entweder wir sind Wölfe, oder wir sind Lämmer. Entweder wir wollen herrschen, oder wir wollen liebend leiden. Entweder wir gehen mit Bismarck, oder mit Tolstoi. Entweder das Evangelium von der gepanzerten Faust, oder das Evangelium der Brüder vom gemeinsamen Leben>

«Wir konstruiren unser staatliches Haus nicht mit den Zedern vom Libanon, sondern mit den Bausteinen vom römischen Kapitol (!). In diesem Haus aber soll Jesus noch heute sein Evangelium verkünden wie einst im römischen Hause.') Deshalb fragen wir Jesus nicht, wenn es sich um Dinge handelt, die ins Gebiet der staatlichen und volkswirthschaftlichen Konstruktion gehören.»>< Soweit sind wir also im heutigen Christenthum. Immerhin ist es gut, dass bei Naumann, wie bei David Strauss, zuletzt doch die wahre, rein weltmässige Gesinnung zu Tage getreten ist.

Wir können leider nicht umhin hieran anzuschliessen, dass auch ein anderer «verehrter Freund» wie ihn unsere religiösen Blätter nennen: Hyazinth Loyson, im Pariser <<Siècle» einen Brief veröffentlichte, worin er sagt: Nicht nur der Katholizismus, sondern auch der rechtgläubige Protestantismus beruhe auf erfundenen oder gefälschten Texten, vom «Pentateuch, der nicht von Moses stammt, von der messianischen Weissagung, die nicht von Daniel ist, bis zum vierten Evangelium, das nicht von Johannes.> Ja, er nannte sogar diese «religiösen Fälschungen» neben den <politischen», wozu er die Falsifikate des DreyfussProzesses zählte! (Kirchenfreund.)

1) Wie er das durfte und wie es die nachmaligen römischen Kaiser gestatteten, ist ja aus der Kirchengeschichte hinlänglich bekannt. Auch der Platz, der Bismarck hier angewiesen wird, ist bezeichnend.

Eine Versammlung waadtländischer Prediger, welche im September d. J. stattfand, gab dem Gefühl, dass der protestantischen Kirche eine Art von Erneuerung bevorstehe, durch den Referenten folgenden Ausdruck, der in mässigerer Sprache ungefähr demjenigen entspricht, was zwei Broschüren, von Kutter und Faber, in der deutschen Schweiz bereits vorher befürworteten:

«Les auteurs posent en thèse que le christianisme passe par une crise aiguë de croissance. Ils reconnaissent ce qu'il y a de justifié dans les attaques comme celles dont M. G. Séailles s'est fait l'éloquent protagoniste. Toutefois, ces attaques visent plutôt certaines conceptions de l'Evangile que l'Evangile lui-même. Il faut savoir changer nos conceptions, tant doctrinales qu'ecclésiastiques.>>

«Le premier votant voudrait voir l'Eglise se développer dans trois sens: par le réveil du sentiment religieux, le travail de vulgarisation théologique et une activité à la fois individuelle et sociale. La discussion, fraternelle d'un bout à l'autre, a mis en lumière ce fait, que la crise actuelle n'a peut-être pas toute l'importance qu'on veut dire, mais qu'elle n'en impose pas moins à nos Eglises des devoirs nouveaux, qui pourront aller jusqu'à des transformations radicales.» (Gazette de Lausanne.)

Das ist das allgemein herrschende Gefühl in der protestantischen Kirche, dass eine Erneuerung vor sich gehen muss, um nach zwei verschiedenen Seiten hin Widerstand leisten zu können, und sogar das weitere Gefühl beginnt, dass Kirche, ja selbst Religion im gewöhnlichen Sinn, und «Reich Gottes» nicht immer und zu allen Zeiten ganz das Gleiche bedeute. Dieser Gedanke wird durch ein neues Buch von Heinrich Lhotzky <<Religion, oder Reich Gottes? Eine Geschichte» sehr geistreich näher ausgeführt. Es ist eine sehr kritische und wohl nicht für Jedermann ganz annehmbare Beleuchtung der Apostelgeschichte. Das sind aber grosse und

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