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Zu den auffallenderen Erscheinungen unserer Zeit gehört, wenn wir nicht irren, eine gewisse Abnahme des Interesses für Geschichte; nicht allein in den weiteren Volkskreisen, sondern auch, worauf es hiebei mehr an kommt, in den gebildeten Klassen.

Bei der grossen Masse des Volkes hängt dies mit der Noth des Lebens zusammen, welche das Interesse für die nächstliegenden Fragen des wirthschaftlichen Daseins gefangen nimmt; auch mit der sozialistischen Ideenwelt, welcher diese Klassen teilweise angehören und die es kaum für der Mühe werth erachtet, vergangenen «Uebelständen» (nach ihrer Auffassung) eine grössere Aufmerksamkeit zu schenken, als gerade unmittelbar zum Behuf ihrer Beseitigung nöthig ist. Bei den Gebildeten der heutigen Nationen muss diese Erscheinung jedoch andere Gründe haben, und diese liegen muthmasslich zunächst zwar in der Art, wie die Geschichte gegenwärtig gemacht wird, aber auch bis zu einem gewissen Grade in der Art, wie sie geschrieben zu werden pflegt, und in den Persönlichkeiten der Geschichtsschreiber.

Diese letzteren Gesichtspunkte sind natürlich allein fähig, näher geprüft zu werden, wenn man den Gegenstand überhaupt einer eingehenden Betrachtung werth hält.

I.

Die allgemeine Auffassung über den Werth der Geschichte lässt sich bei einem gebildeten Menschen nicht leicht ändern. Sie hängt mit seiner Lebensauffassung, seinen Ansichten über die Menschen, ihren Zweck auf Erden, und über die Lenkung oder Nichtlenkung ihrer Geschicke zusammen. Goethe hatte z. B. die Meinung, dass das, was wir Geschichte nennen, bloss eine individuelle Einbildung sei, die sich durch Jahrhunderte fortwälze und immer nur Schlamm mit sich ziehe.') Andere Schriftsteller und Philosophen, wie Kant, Schopenhauer, Nietzsche enthalten mitunter ebenso bedenkliche Aeusserungen über den Nutzen der Geschichte, und von Walter Raleigh wird berichtet, dass er eine von ihm verfasste geschichtliche Darstellung verbrannt habe, weil er wahrnahm, wie sehr verschieden Ereignisse aus der Gegenwart von zuverlässigen Augenzeugen seiner Bekanntschaft beobachtet und wiedererzählt wurden. Er verzweifelte also an der Möglichkeit einer objektiv-wahren Geschichtschreibung, und legte einer mehr subjektiv aufgefassten und wiedergegebenen keine Bedeutung bei.

Andere sehr massgebende Schriftsteller hingegen legen auf die Geschichte doch einen sehr hohen Werth. Thierry z. B. beginnt seine «Considérations sur l'histoire de France» mit folgenden Worten:

<<L'histoire nationale est pour tous les hommes du même pays une sorte de propriété commune. C'est une portion du patrimoine moral que chaque génération, qui disparait, lègue à celle qui la remplace; aucune ne doit la transmettre telle qu'elle l'a reçue; mais toutes ont pour devoir d'y ajouter quelque chose en certitude et en clarté. Ces progrès ne sont pas seulement une œuvre littéraire,

1) Vgl. Saitschik's Goethe pag. 71.

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ils donnent peuple civilisé.>>

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la mesure de la vie sociale chez un

Wir glauben oder hoffen wenigstens, dass dies auch die bei uns noch vorherrschende Ansicht sei und sind um so mehr veranlasst, den Gründen nachzuspüren, weshalb sie in einer nun schon etwas vergangenen Periode, sagen wir etwa von den zwanziger Jahren des 19ten Jahrhunderts, als die neue Arbeit der geschichtsforschenden Gesellschaften und einzelner Geschichtsfreunde unseres Landes begann, bis nach 1848 viel allgemeiner geglaubt wurde, als es gegenwärtig der Fall zu sein scheint.

Vielleicht liegt ein Theil der Schuld an diesem Niedergang darin begründet, was ein Geschichtsforscher unserer Zeit selber anführt:

«Wir sind allmählig mit unserer historischen Gelehrsamkeit dahin gelangt, dass wir in der Hauptsache nur für unsere Fachgenossen und zwar für eine mit jedem Jahr sich mindernde Zahl derselben arbeiten. Denn die Detailforschung ist so angeschwollen, dass das Gebiet, welches der einzelne Historiker wirklich zu beherrschen vermag, immer enger wird. Nun dürfte es doch aber unbestreitbar sein, dass die Geschichte nicht eigentlich die Aufgabe hat, die Historiker zu belehren, dass eine Forschung, welche nicht schliesslich zu dem Ergebnisse führt, die nationale oder die allgemeine Bildung zu fördern, dass namentlich die geschichtliche Forschung, welche auf dieses Ziel verzichtet, sich in falschen Bahnen bewegt.>>

Die Geschichtsforschung und die Geschichtsdarstellung hätte sich demnach von den Bedürfnissen und dem geistigen Niveau nicht bloss des Volkes, sondern auch der gebildeten Klassen, mit Ausnahme einer sehr beschränkten Zahl von Fachleuten, nach deren Beifall sie allein geizte, zu sehr entfernt.

Auch die historischen Gesellschaften, deren Aufgabe es zunächst sein sollte, den Sinn für Geschichte in den Kreisen der Gebildeten wach zu erhalten, sind vielleicht mitunter an dieser Abnahme eines allgemeineren Interesses für die Geschichte nicht ganz unbetheiligt. Sie enthalten sehr viele Leute, die ein zu wenig selbständiges Urtheil über die historischen Verhältnisse haben und sich mit denselben oft bloss aus ganz äusserlichen Gründen beschäftigen. Entweder um ihren Familien im Dunkel der Vergangenheit nachzuspüren, oder weil sie mit der gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsordnung sich im Widerspruch befinden, oder weil sie überhaupt «laudatores temporis acti» sind. Zieht man diese spezifisch «konservativen» Geschichtsfreunde von der Gesammtzahl derselben in einem Lande ab, so wird dieselbe eine sehr erhebliche Reduktion erleiden.

Die Hauptsache ist das alles aber doch noch nicht. Die Abnahme des Interesses für Geschichte kommt wesentlich von der ganz materiellen Geistesrichtung her, die vor einem Menschenalter mit der Erbauung der Eisenbahnen und Telegraphenlinien, der enthusiastischen Befürwortung von Polytechniken neben den Universitäten und theilweise im bewussten Gegensatz gegen dieselben, und mit der «positivistischen» Richtung in der Philosophie und Kunst begann, und allmählig in dem vollen Uebergewicht einer naturwissenschaftlich-materialistischen Lebensauffassung gegenüber einer idealistischeren Philosophie oder Religion fast bei der ganzen gebildeten Klasse ihren Ausdruck fand. Am positivsten ist dies natürlich der Fall bei den Sozialisten, welche des festen Glaubens leben die Endursache alles Geschehenden sei immer wirthschaftlicher Natur und selbst die Ethik oder Religion

eines Volkes richte sich nach seiner Produktionsweise. Das ist z. B. die Grundanschauung von Carl Marx und Friedrich Engels gewesen und mehr oder weniger huldigen ihr alle sozialistischen Schriftsteller.

Am Ende kommt doch eben alles darauf hinaus, ob man die Geschichte als ein Machwerk von mehr oder weniger mächtigen und gewaltthätigen Menschen oder Parteien auffasst, oder als eine Art Naturprodukt, etwas, was gewissermassen von selber durch eine rein materialistisch gedachte «Entwicklung» aus unerklärbaren Anfängen herauswächst. Oder endlich, im Gegensatz gegen diese beiden Ansichten, als eine bewusst-idealistische Erziehung des Menschengeschlechts durch einen unbedingt waltenden und diese Erziehung leitenden Gottesgeist, dessen Absichten die jeweilige Generation von Menschen wohl widerstreben und sie dadurch aufschieben, aber nicht verhindern kann.

In den ersten beiden Fällen, und insofern man dann noch darauf Bedacht nimmt, wie die Ereignisse, welche später Geschichte sind, jetzt scheinbar von den handelnden Personen «gemacht» werden, und wie viel Unrecht, Gewalt und Täuschung damit verbunden ist, muss einem klardenkenden Geiste die ganze Geschichtschreibung verdächtig werden. Denn er glaubt dann zu sehen, dass dieselbe ein sehr willkürlich von Einzelnen, für ihre Zwecke, oder auf Anordnung ihrer Vorgesetzten zusammengedichtetes Machwerk ist, ein Instrument, um die Menschen zu knechten und an dem freien Gebrauch ihrer Kräfte und der Erlangung ihrer natürlichen Menschenrechte zu hindern. Die «Helden» der Vergangenheit werden dann zu geschickten Schauspielern, oder zu Drahtpuppen, die von andern Elementen in Thätigkeit gesetzt worden sind, und

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