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lagen der Gesellschaft. Das ist der tiefere Sinn von fin de siècle, und es gilt nun, sich Rechenschaft zu geben und den Scheidungsprozefs einzuleiten zwischen dem, was bleibend und der Erhaltung wert, und dem, was vergänglich und zum Untergang reif ist. Demnach ist erstens das Leben des deutschen Studenten und zweitens das akademische Studium, wie es ist und wie es sein sollte, einer eingehenden Kritik zu unterziehen, wobei die Idee bestehen bleibt, dafs die Universität eine ,,demokratische Schule ist, deren Ziel die Aufnahme in die geistige Aristokratie der Bildung sein soll". Freilich nicht alle, die studieren, werden dadurch zu Rittern vom Geist, aber spurlos geht diese ,,unvergleichliche Schulung" doch schwerlich an einem vorüber, einen Hauch jenes freien Geistes hat doch jeder einmal verspürt, und der Segen für unser Volksleben bleibt bei keinem ganz aus.

Für das Leben des freien Burschen galt vordem die akademische Gerichtsbarkeit als Palladium, aber Ziegler sieht ihre Aufhebung nicht eben als Verlust an, nur fordert er von der Polizei einer Universitätsstadt, dafs sie Humor habe und sich taktvoll benehme. Es ist richtig, dafs sich im Jahre 1848 wohl noch etliche Professoren für die Sonderstellung erwärmten, die Studentenschaft selber aber leichten Herzens darauf verzichtet hat. Sie glaubte damit einen hochpolitischen Akt zu vollziehen und der allgemeinen Freiheit und Gleichheit eine rühmliche Konzession zu machen. Im ganzen, wenn ich die damalige Zeit mit dem vergleiche, was Z. heute als ,,die Politik des Studenten" anrät, und was er als solcher vor 30 Jahren selber betrieben hat, so war es damit offenbar im Jahre 1848 am gemütlichsten. Als in jenem Sommer durch die Strafsen von Bonn im Jubelsturm die Kunde frohlockte, unter den Auspicien Gottfried Kinkels sei ein Kalb steuerfrei in die Stadt gebracht, erlaubte ich mir die zutreffende Bemerkung, das kindliche Vergnügen werde morgen vermöge eines Kölner Bataillons ein Ende nehmen. Darob eröffnete mir Bürger" Karl Schurz die erfreuliche Aussicht: ,,Sie sind der erste, den wir bängen!" Mit meiner Antwort: Na, es wird ja keine Eile haben, war die Sache erledigt, und unser freundschaftlicher Verkehr erlitt keinerlei Abbruch. Ziegler mufs im Jahre 1866 viel aufgeregter gewesen sein, denn als Student bereits hat er nicht nur Zeitungsartikel geschrieben, sondern auch die grofse Schwenkung zu Preufsen und Bismarck fast von heute auf morgen vollzogen. Krank hat das ihn zwar gemacht, aber ein gebrochenes Herz und ein gebrochenes Leben hat er nicht davongetragen. Solche Übergänge stehen angeblich nicht in Widerspruch damit, dafs der Student,,unerbittlich konsequent sei; er ist es jedesmal und in jedem Augenblick innerhalb des Standpunktes, den er gerade einnimmt und den er nun eben für den höchsten und besten hält, auch wenn er ihn schon im nächsten Augenblick wieder verläfst. Er ist ob konservativ oder liberal oder so

zial

stets radikal". Im übrigen wünscht Z. eine aktive Beteiligung des Studenten am politischen Leben nicht; er mag sich vorbereiten und namentlich geschichtliche und nationalōkonomische Vorlesungen hören; er soll nicht seine Zeitung, wohl aber Zeitungen lesen, und dafs er stehender Besucher von Volksversammlungen sei, ist ebenso natürlich wie vernünftig". Vor allen Dingen sollen keine studentischen Korporationen nach politischer oder religiöser oder sozialer Gruppierung gebildet werden; denn das gegenwärtige Parteileben in seiner Zerklüftung und in seiner gegenseitigen gehässigen Befehdung sei ein Unglück; den meisten der gegenwärtigen Parteien könne man keinen Bestand wünschen, und der Student habe das Recht, seine Meinung zu wechseln, zu schwanken und selbst Sprünge zu machen.

Das Kapitel vom Trinken hebt, wie billig, mit Tacitus' Germania an. „Die Deutschen haben immer noch eins getrunken. Aber wir können es nicht mehr so gut, wie unsere Altvordern, und was man nicht kann, das sollte man billig lassen. Unser Magen ist offenbar schwächer (?), unsere Nerven widerstandsunfähiger; vielleicht ist auch der Stoff daran mit schuld, unsere Getränke sind heutzutage künstlicher und raffinierter, verfälschter und ungesünder". Solchem Pessimismus giebt sich der Student doch wohl nur in jener ,,festlichen Nachstimmung" hin, in welcher es ihm gelegentlich erlaubt sein soll,,,zum Frühschoppen zu wandern" (S. 60); die Regelmäfsigkeit dieser Institution verwirft Z. mit vollem Recht; zu meiner Zeit war sie in Bonn auf den Sonntag beschränkt, und die wichtigsten Collegia (incl. Fechtboden) lagen von 12-1 Uhr, so dafs dazu keine Zeit blieb. - In der folgenden Vorlesung werden nicht nur die Studenten, sondern die gebildeten Stände überhaupt wegen der Unsauberkeit und Unsittlichkeit des Lebenswandels sehr scharf zurechtgewiesen. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage wird bemerkt: ,,Man will nicht arm scheinen, daher nimmt man den Schein des Reichseins an, und diesem falschen Schein bringt man sogar das Glück und das Behagen der Seinigen zum Opfer. Die zwei, Feigheit und Falschheit, sind auch hier wieder die Wurzel alles Übels". Das ist ja wahr, und nicht der Student allein, sondern namentlich auch der Beamte sollte sich weit mehr, als es geschieht, nach Philemon und Baucis richten: paupertatemque fatendo effecere levem. Die Stipendien sollten nicht in kleinen Summen als dürftige Almosen und unbedingt nur an begabte und fleifsige Studenten verliehen werden.

Alle diese Punkte, ingleichen Mensur, Duell und Verruf werden unter dem Gesichtspunkt der akademischen Ehre behandelt. Des weiteren werden die Verbindungen, das Militärjahr (welches nicht auf das Triennium angerechnet und nicht auf der Universität abgeleistet werden soll), die soziale Frage und die geselligen Beziehungen erörtert; doch kann hier nicht näher darauf eingegangen werden.

Was nun zweitens das Studium selber angeht, so begegnen wir zunächst einer offenbar anachronischen Elegie.,,Gerade im letzten Jahr, wo der Knabe zum Jüngling wird und anfangen könnte und möchte, selbständiger und nach persönlichen Interessen und Liebhabereien zu arbeiten und in der Arbeit frei zu wählen, kommt das Abiturientenexamen und übt den mächtigsten Zwang aus, der leider alle Freiheit erdrückt und ertötet. . . . Die Fälle trotziger Faulheit auf der Universität würden seltener sein, wenn nicht gerade das letzte Schuljahr ein so zwangsmässig verlaufendes, gehetztes wäre".

So konnte man vor Zeiten sprechen, und in ähnlichem Sinne habe ich im Jahre 1872 auf der Leipziger Philologenversammlung gefragt, ob unsere Primaner dem Abiturientenexamen gegenüber etwas von dem τρεῖν μὲ οὐκ ἐᾷ Παλλάς Αθήνη verspüren liefsen, ob sie ἀγλαΐηφι πεποιθὼς ρίμφα ἓ γοῦνα φέρει ans Ziel gelangten oder wie ein abgemattetes Rennpferd, ein wohldressiertes? Ob das die Weise sei, Charaktere zu bilden, die dereinst zu einer energischen Initiative fähig sein sollten? Auf diesen Appell, beantragte Wiese, die Sache auf die nächste Tagesordnung zu setzen, wo ich denn erklärte, die Anforderungen brauchten in keinem Fache ermäfsigt zu werden, nur müfsten die Fachlehrer auf die Pedanterie des Ciceronianismus verzichten, ganz miserable Redensarten, wie tantum abest ut, non dubito quin futurum fuerit etc. nicht für elegant ausgeben und nicht in Ohnmacht fallen, wenn einmal ein Schüler fierentur schreibe. Auch sei das Französische aus Quinta wieder zu entfernen, weil es die sprachliche Bildung der zehnjährigen Knaben verwirre. Auf das Reglement komme wenig an, auf die Handhabung alles; diese müsse eine weit freiere werden, namentlich hinsichtlich der Kompensation; dem widerstrebten nicht etwa die Schulräte, sondern die Fachlehrer. Vor allen Dingen dürfe in der mündlichen Prüfung nichts gefragt werden, was nicht im Lauf des Bienniums wirklich gelehrt oder behandelt worden sei.

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Allen diesen Forderungen ist seitdem allerdings erst nach 20 Jahren genügt; es ist weiter die Stundenzahl herabgesetzt, die Zielleistungen fast durchweg ermäfsigt, der lateinische Aufsatz weggefallen und die mündliche Prüfung in einer Weise beschränkt, die Baumeister in der Einleitung zu dem Handbuch ,,lax“ nennt. Da kann man doch nicht fürder von Zwang und Abhetzung reden, und ich würde mich gar nicht wundern, wenn ein anderer Professor die trotzige Faulheit" der Studenten sich daraus erklärte, dafs sie auf der Schule zu wenig an ernste Arbeit gewöhnt seien.

Besonders schlecht soll es auf den Gymnasien mit verschwindenden Ausnahmen um die Religion bestellt sein. Da ist es denn einigermafsen tröstlich, dafs die Generalsuperintendenten

zwar Mängel finden, meisthin aber volle Anerkennung und nicht selten wahre Herzensfreude aussprechen.

Und wie sollten denn sonst auch so viele Jünglinge beider Konfessionen Theologie studieren? Den Philologen lockt wirklich, sagt Z., meist das Studium selbst, das Wissen und die Wissenschaft; ich denke, den Theologen nicht minder; denn beiden bietet die Gymnasialbildung weit mehr Anhalt und Sicherheit für die Wahl des Berufes, als es bei Medizinern und Juristen der Fall ist. Wen Homer und Sophokles kalt läfst, wird nicht Philologie, und wer keine Religion hat, nicht Theologie studieren; er weifs auch ganz bestimmt, dafs er dem künftigen Amte innerlich nicht gewachsen ist, und äufserlich lockt es ihn nicht, denn dat Galenus opes, dat lustinianus honores, nicht Katheder und Kanzel. Wissenschaftliche Begeisterung oder Neigung für einen bestimmten Beruf sind aber doch die beiden Gründe, aus denen man normaler Weise studieren kann (S. 165). Dafs viele Banausen es invita Minerva thun, ist ja wahr; da soll dann nun wieder die Schuld an der Schule liegen; sie müfste bei Versetzungen und Prüfungen strenger, viel strenger als bisher verfahren. Die arme Schule! Oben ward sie wegen zwangsmässiger Abhetzerei denunziert.

Die Aufgabe der Universität wird sehr treffend dahin charakterisiert, dafs sie nicht für die Wissenschaft im Sinne des weltentfremdeten Akademikers, nicht ohne Wissenschaft im Sinne des unwissenden Praktikers, sondern nur durch die Wissenschaft zum Beruf zu bilden habe. Demgemäfs ist der Professor Gelehrter und Lehrer zugleich;,,wer aber eines gar nicht, oder wer gar keins von beiden ist, der freilich wäre nicht am richtigen Platz". Mancher sündigt, indem er vergifst,,,dafs die Buchdruckerkunst längst schon erfunden ist" und fortfährt, Manuskripte vorzulesen und zu diktieren.

Hinsichtlich der Ferien meint Z., so gut ein Papst den Kalender revidiert hat, könnte ein anderer auch das Osterfest festlegen; die Protestanten würden ihm darin gewifs gern folgen. In der That ist es ein seltsam Ding, die Einteilung des bürgerlichen Jahres nach einem beweglichen Feste zu regeln, worunter vor allem die Schule leidet. Auf der Oktoberkonferenz im Jahre 1873 haben wir bereits vorgeschlagen, das Schuljahr mit den Sommerferien abzuschliefsen und durch die Weihnachtsferien in zwei Hälften zu teilen. Damals hielt Falk die Sache wegen der Universitäten für unausführbar, aber seitdem wir eine einheitliche Zeit bekommen haben, kann man vielleicht schon eher auf eine sachgemäfse Einteilung des Schuljahrs hoffen, und jedenfalls wäre es kein Unglück, wenn Ostern fixiert würde oder solange das nicht zu erreichen ist, der Schlufs des Wintersemesters ohne Rücksicht auf das Datum des Festes auf Ende März verlegt würde.

Die Doktordissertationen über Einzelfragen, zu denen der Professor sich selbst für zu schade hält, verwirft Z. mit Recht; das seien Kärner- und Sklavendienste. Ein typisches Beispiel dafür ist:,,Über den Hiatus bei Onesander". Item „Die Orthographie der afrikanischen Steinmetzen". Im Staatsexamen sollen die die Mitglieder der Prüfungskommission ihre Macht nicht mifsbrauchen und der Student nicht halt- und charakterlos zu den Vorlesungen der künftigen Examinatoren hinübergravitieren. Ernst Curtius hat mir einmal mit neuerwachter Entrüstung erzählt, als er zum ersten Male in die Prüfungskommission berufen sei, habe er plötzlich 70 statt 17 Zuhörer gehabt; der Aberglaube ist also sehr weit verbreitet und sehr hartnäckig.

Sehr rühmlich ist auch die Unbefangenheit Z.s, mit der er die Prüfung in allgemeiner Bildung,,,zu der leider auch mein Fach, die Philosophie, gehört", gänzlich verwirft. Die allgemeine Bildung könne höchstens herausgefühlt, nicht konstatiert werden, und er habe nicht gefunden, dafs durch die Prüfung die Zahl der philosophischen Köpfe vermehrt würde. Und wie steht

es mit dem Resultat dieser Prüfungen? Ein mir bekannter Pastor hat erst die theologische Prüfung und einige Wochen später an derselben Universität das Examen pro facultate docendi bestanden; bei der ersten erhielt seine allgemeine philosophische Bildung das Prädikat,, vorzüglich", bei der zweiten,,ungenügend". Auch habe ich Dutzende von Jünglingen gesehen, denen die summi in philosophia honores übertragen waren und das Zeugnis allgemeiner Bildung in der Philosophie versagt ward. Da ist doch wohl something rotten. Schliefslich wendet Z. sich sehr nachdrücklich gegen Dunkelmänner und Karlsbader Beschlüsse. ,,Lassen Sie", ruft er seinen Zuhörern zu,,.soweit es auf Sie ankommt, nie in Ihrem Leben rütteln an der akademischen Freiheit; mit ihr stehen, mit ihr fallen die deutschen Hochschulen und, was noch viel mehr ist, die deutsche Wissenschaft selber!" Danzig.

Carl Kruse.

W. H. Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft. Schulausgabe mit Einleitung und Anmerkungen von Th. Matthias. Stuttgart 1895, J. G. Cotta. 216 S. 8. kart. 1,20 M.

Rasch hat Matthias seiner Auswahl aus Riehls Schrift,,Land und Leute eine solche auch aus seinem Buche,,Die bürgerliche Gesellschaft" folgen lassen, überzeugt, dafs eine solche Auswahl aus diesem nach Form und Inhalt klassischen Werke besonders geeignet wäre, die Schüler der oberen Klassen der höheren Anstalten in die jetzt alle Volkskreise bewegende soziale Frage einzuführen und zu weiteren in dieses Gebiet einschlagenden Studien einen festen Grund zu legen, jedenfalls einen festeren, als dies durch gelegentliche Bemerkungen im Geschichtsunterricht oder durch die Lektüre einiger Aufsätze im Lesebuch geschehen könnte.

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