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ERSTE ABTEILUNG.

ABHANDLUNGEN.

Ziele und Wege des lateinischen Unterrichts
nach den neuen Lehrplänen.

Der Kernpunkt aller Reformen, welche die neuen Lehrpläne im altsprachlichen Unterricht bringen, der Punkt, nach dem alle Einzelheiten derselben zu beurteilen sind, liegt in den aufgestellten Zielen: für das Lateinische,,Verständnis der bedeutenderen klassischen Schriftsteller und sprachlich-logische Schulung“, für das Griechische nur das erstere. Selbstverständlich ist das zweite auch hierbei nicht ausgeschlossen, vielmehr ist der Grund, weshalb es nicht besonders erwähnt wird, wohl nur darin zu suchen, dafs dieses Ziel als im wesentlichen schon durch das Lateinische erreicht mehr in den Hintergrund treten soll. Damit fällt also der einzige Schwerpunkt der ganzen Unterrichtsarbeit nicht mehr auf den eigenen Gebrauch des Lateinischen, sei es in Exerzitien, Extemporalien oder Aufsätzen, sondern auf das Übersetzen, und das ist vom Standpunkte des humanistischen Gymnasiums selbst als ein grofser Fortschritt zum Besseren zu begrüfsen, dessen Bedeutung erst dann voll gewürdigt werden wird, wenn man erst allgemein von den althergebrachten Vorstellungen sich weit genug losgearbeitet hat, um den Unterschied in seinem vollen Umfange zu ermessen, die notwendigen praktischen Konsequenzen zu ziehen und damit entschlossen den Weg zu betreten, der zu den neuen Zielen führt. Augenblicklich befinden wir uns noch in einem Übergangsstadium, in welchem die ganze Tragweite der neuen Bestimmungen vielfach nicht richtig erkannt wird, weil das Urteil noch vom Lateinschreiben beeinflufst ist.

Der bisherige Betrieb des Lateinischen, der dann mehr oder weniger auch den des Griechischen beeinflusste, wurzelt in einer Zeit, wo dasselbe noch Gelehrtensprache war. Damals machte man auch an Korrektheit bescheidenere Ansprüche. Seitdem das aufhörte, begründete man die herkömmliche Richtung des Unterrichts mit dem Zweck der ,,formalen Bildung". Darunter verstand man, dafs die Beschäftigung mit den alten Sprachen, namentlich mit Grammatik und Lateinschreiben, die Befähigung zu jedem Zeitschr. f. d. Gymnasialwesen L. 9.

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wissenschaftlichen Studium erzeuge, und noch Bunsen behauptete, ohne Widerspruch zu finden, dafs man aus einem guten Philologen alles machen könne. Dafs das ein Irrtum war, dürfte jetzt niemand mehr bestreiten. Dafs das Sprachstudium nicht auch das mathematische Denken entwickelt, zeigt die tägliche Erfahrung in unseren Oberklassen, wo sehr oft die Leistungen in beiden Fächern in grellstem Gegensatz stehen. Dafs sie Sinn und Verständnis für Naturwissenschaften nicht fördern, beweisen die häufigen Klagen der hervorragendsten Dozenten derselben an den Universitäten, und bezüglich der Geschichte habe ich dieselbe Klage, wenn ich nicht irre, von Treitschke gelesen. Jedes Gebiet des Wissens und Forschens setzt eben eine Summe ihm eigentümlicher Anschauungen und Begriffe, sowie einige Geübtheit im Operieren mit denselben voraus. Daher die häufig gemachte Erfahrung, dafs Schüler, die in den Sprachen mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, später nicht nur im praktischen Leben, sondern auch in der Wissenschaft Hervorragendes leisteten, und umgekehrt. Das Einzige, was wirklich durch Sprachstudien erreicht werden kann, ist sprachlich-logische Schulung, sowie Gewöhnung an angestrengte Geistesarbeit überhaupt, weiter nichts. Dabei sind und bleiben die alten Sprachen aber gleichwohl ein vortreffliches Bildungsmittel für höhere Schulen, ebensogut wie der unentbehrliche Schlüssel zu allen Wissenschaften, die auf dem Altertum basieren; nur mufs die Art des Betriebes den neuen Zielen entsprechend geändert werden. Diese werden nicht erreicht durch die gedächtnismäfsige Aneignung von Formen, Vokabeln und sonstigem Sprachmaterial, sondern durch die vergleichende Beobachtung der Gesetze zweier Sprachen, durch das Erfassen der verschiedenen Anschauungs- und Ausdrucksweise beider, und dieses wiederum geschieht hauptsächlich durch all die verschiedenen Verstandesthätigkeiten, die dazu erforderlich sind, um eine in der einen niedergelegte Gedankenreihe genau zu ermitteln und in der anderen ihrem Geiste entsprechend wiederzugeben. Welcher von beiden Wegen erscheint nun wohl als der einfachere und natürlichere: dafs der Schüler deutsche Gedankenreihen, seien es eigene oder fremde, in einer toten Sprache wiedergiebt, oder dafs er gegebene Gedankenreihen der Schriftsteller genau ermittelt und in korrektes Deutsch überträgt? Dafs das zwei ganz verschiedene Arten von Thätigkeiten sind, dafs sie nicht blofs einen verschiedenen Umfang, sondern auch eine ganz andere Art des Wissens voraussetzen, so dafs man höchstens darüber streiten kann, in welchem Mafse das eine das andere zu fördern geeignet ist, das weifs doch sicher jeder Lehrer, der sich und seine Schüler in dem inneren Getriebe der geistigen Werkstatt beobachtet hat. Ich habe früher französische und englische Bücher und Zeitungen geläufig gelesen, lediglich mit den dürftigen Resten grammatischer Kenntnisse, die ich aus

der Schule mitbrachte. Alle gelegentlichen Versuche aber, diese Sprachen zu schreiben oder gar zu sprechen, fielen höchst kümmerlich aus. Nicht blofs Wörter, die mir in der Lektüre völlig geläufig waren, fielen mir nicht ein, sondern auch die Sätze mufste ich wie ein Kind mir erst deutsch zurechtlegen und dann übersetzen. Vollends aber, als ich in Quarta und Tertia thèmes korrigieren sollte, was habe ich da alles in Grammatik und Lexikon aufschlagen müssen! Ähnliche Beobachtungen wird jeder Lehrer auch im Lateinischen und Griechischen machen, und das ist ganz natürlich. Es ist eine bekannte psychologische Thatsache, dafs Vorstellungen nur in der Reihenfolge einander hervorrufen, in der sie eingeprägt sind: wenn das Schrift- oder Lautbild des Wortes,,manus" sofort das andere ,,Hand" in das Bewusstsein steigen läfst, so folgt daraus noch lange nicht, dafs das auch umgekehrt geschieht. Daher fällt uns die deutsche Bezeichnung für fremdsprachliche Wörter viel leichter ein als umgekehrt, und jeder erfahrene Lehrer weist seine Schüler an, beim Vokabellernen bald das Deutsche, bald das Lateinische zuzuhalten. Es ist also geradezu eine doppelte Art des Lernens nötig. Noch viel gröfser aber ist der Unterschied in dem Umfange des für beide Thätigkeiten erforderlichen Gedächtnisstoffes. Securim und Tiberim wird jeder im Zusammenhange ohne weiteres als Akkusative von securis und Tiberis erkennen, wenn ihm nur das allgemeine Gesetz bekannt ist, dafs manche Wörter auf is die Endung im haben; für das Hinübersetzen aber mufs er sämtliche einzelnen hierher gehörigen Wörter im Kopf haben, um die Formen richtig zu bilden, und zwar so sicher, dafs ihm sofort und ohne Reflexion diese Abweichung einfällt, denn er hat keine Zeit, alle in seinem Exerzitium vorkommenden Wörter daraufhin zu untersuchen, ob sie etwa die Endung im haben, dazu hat er gleichzeitig auf zu vielerlei sich zu besinnen. Es handelt sich also im einen Falle nur um das Wiedererkennen eines Gesetzes in Gegebenem, Vorliegendem, im anderen um das sichere und bis zu einiger Geläufigkeit eingeübte Wissen zahlloser Einzelheiten. Das Genus der Substantiva ist für das Übersetzen fast ganz bedeutungslos, es ergiebt sich eben, soweit es von Belang ist, aus den Attributen und Prädikaten; man könnte also mit ganz wenigen und allgemeinen Genusregeln auskommen. In der Syntax wird jeder Quartaner den Sinn von parare bellum, intercludere aliquem commeatu durch wörtliche Übersetzung leicht finden, ebenso dafs wir dafür sagen: sich zum Kriege rüsten, jemandem die Zufuhr abschneiden. Also alle Phrasensammlungen, die jetzt mit Vorliebe angelegt werden, dienen nur dem Zweck des Hinübersetzens. Von den Verben und Adjektiven der Trennung braucht der Schüler nur zu wissen, dafs sie bald mit dem blofsen Ablativ, bald mit einer Präposition konstruiert werden. Was endlich die Satz- und Periodenbildung anlangt, so vergegenwärtige man sich nur an

dem einen Satze:,,Man darf Dinge nicht Güter nennen, an denen man Überflufs haben und doch höchst unglücklich sein kann,“ wieviel schwieriger es ist, wieviel mehr Regeln und Übung es erfordert, denselben ins Lateinische als umgekehrt: .,ea non sunt bona dicenda, quibus abundantem licet esse miserrimum" ins Deutsche zu übersetzen. Es ist also zweifellos nicht blofs eine ganz andere und zwar viel leichtere Art der Thätigkeit, ins Deutsche als ins Lateinische zu übersetzen, sondern das erstere erfordert auch einen viel geringeren Umfang des positiven Wissens.

Nun entsteht die weitere Frage nach dem Werte beider Thätigkeiten für die sprachlich-logische Schulung. Worin besteht die Geistesarbeit des Schülers beim Hinübersetzen? Doch wesentlich darin, dafs er Vokabeln, Formen, Phrasen und Konstruktionen ziemlich mechanisch aus dem Gedächtnis hervorholt, um sie zu lateinischen Sätzen zusammenzusetzen, von denen er dann selbst nicht einmal beurteilen kann, ob sie wirkliches Latein enthalten. Eine genaue und scharfe Untersuchung des Inhalts ist dabei sehr selten erforderlich, denn die Sätze in den Übungsbüchern sind fast sämtlich so zurecht gemacht, dafs die Übersetzung recht wohl ohne das möglich ist, und wo sie einmal nötig wird, da werden regelmäfsig die Fehler gemacht, wie in der Verwechslung von dum und cum während. Sie ist aber auch kaum möglich, weil die ganze Aufmerksamkeit des Schülers durch die Form in Anspruch genommen ist. Wie spurlos deshalb der Gedankengehalt des Exerzitiums an den Schülern vorübergeht, davon kann man sich leicht durch Versuche überzeugen. Ich habe das erste Stück aus Süpfles,,Lateinischen Stilübungen" über Homer in Obersekunda schriftlich machen lassen und noch an demselben Tage bei einer Einleitung zur Odyssee die Frage gestellt: was wifst ihr denn nun aus dem Exerzitium über Homer und seine Gedichte? Aber mit allen Anstrengungen war nichts herauszulocken als von einem die Bemerkung, dafs die Gedichte zuerst in Asien gesungen seien, und sogar als ich ihnen selbst anderes angab, sah man an den Gesichtern, dafs nur wenige eine dunkle Erinnerung hatten, dafs etwas derartiges vorgekommen sei. Das Exerzitium verlangt also fast ausschliefslich eine auf die Form gerichtete Geistesthätigkeit, und die reine Gedächtnisarbeit nimmt dabei den Schüler in solchem Mafse in Anspruch, dafs der urteilende Verstand auch da, wo er zur genaueren Prüfung des Inhalts, der Bedeutung einzelner Wörter und des logischen Verhältnisses der Satz- und Periodenglieder zu einander eigentlich erforderlich wäre, darüber doch nicht zur Geltung kommen kann. Man lasse sich nicht irreleiten durch die Fülle von Scharfsinn und feinem Sprachverständnis, das ein Naegelsbach oder Seyffert verraten, wenn sie deutsche Perioden in lateinische umwandeln. Man vergesse dabei nicht, dafs diese Denkfähigkeit erst das Er

gebnis der Lebensarbeit besonders dazu begabter Männer war, und welche Fülle von positiven Kenntnissen und welche eingehende Beschäftigung mit den Klassikern eine solche Thätigkeit voraussetzt. Vom Schüler aber mit seinem ungeübten Denken und seinen dürftigen Kenntnissen etwas Ähnliches zu verlangen wäre doch geradezu lächerlich; der mufs von der Menge der Einzelfragen, die ihm da entgegentreten und die er fast sämtlich nur aus dem Gedächtnis, bezw. aus Lexikon und Grammatik beantworten kann, so erdrückt werden, dafs er Sinn und Zusammenhang des Ganzen aus dem Auge verliert.

Noch viel geringwertiger aber ist für die sprachlich-logische Schulung das Wiedergeben eigener Gedanken in Form von lateinischen Aufsätzen oder der jetzt an die Stelle getretenen freien Inhaltsangaben. Unter allen Umständen ist das dazu erforderliche positive Wissen und namentlich die Sicherheit und Geläufigkeit in der Anwendung desselben viel zu gering; es bleibt dem Schüler nichts übrig, als seine eigenen Gedanken so lange zu modeln und zu schrauben, bis er dieselben ausdrücken kann, und dabei mufs dann natürlich auch das ursprünglich klar Gedachte vielfach schief, unklar oder unlogisch herauskommen. Kann das wohl ein geeignetes Mittel sein, um klares und folgerechtes Denken zu entwickeln? Daher die häufig gemachte Erfahrung, dafs mittelmäfsige Köpfe bessere lateinische Aufsätze machten als scharf denkende. Jene begnügen sich mit allgemeinen, verschwommenen Gedanken und Phrasen, denen sich leichter ein leidliches lateinisches Gewand geben läfst; diese können sich nicht so leicht entschliefsen, die Klarheit und Schärfe des Gedankens der Form zu opfern und schreiben ein schwerfälliges Deutsch-Latein. Deshalb enthielten denn auch die lateinischen Aufsätze entweder einfache Erzählung, wie sie auch ein Sekundaner geben könnte, verbrämt mit gewissen ciceronianischen Einleitungs- und Übergangsformeln, die hauptsächlich den sogenannten color latinus lieferten 1), oder sie waren, wie schon Wiese mit Recht bemerkte, glücklichsten Falles ein Cento.

Mit dieser öden und mühseligen Quälerei, deutsche Gedanken in eine fremde Form zu giefsen, der sie sich nicht anschmiegen,

1) Ein Beispiel von der Gedankenlosigkeit, mit der solche Formeln oft angewandt wurden, ist mir aus meiner Praxis erinnerlich. Ein Schüler hatte den ersten lateinischen Aufsatz, den ich zu korrigieren hatte, mit Cogitanti mihi angefangen. Ich fragte ihn scherzend, warum er denn das übliche saepenumero ausgelassen hätte. Antwort: Ja, das steht im Capelle in Klammern dabei, das kann man also auch auslassen". Und die Klasse lachte nicht etwa laut auf, sondern sah mich verwundert an, als ich das Lachen nicht unterdrücken kounte. Als ich ihnen dann auseinandersetzte, dafs solche Redewendungen bei Cicero einen realen Sinn hätten, im Munde von Schülern aber lächerliche Phrasen wären, machte einer die Bemerkung, der lateinische Aufsatz sei ja doch auch eigentlich weiter nichts als eine Zusammenstellung von Phrasen. Ganz Unrecht geben konnte ich ihm nicht.

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