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Zeitschrift

für

neufranzösische Sprache

und Litteratur

mit besonderer Berücksichtigung des Unterrichts
im Französischen auf den deutschen Schulen

herausgegeben

von

Dr. G. Körting und Dr. E. Koschwitz.

Prof. a. d. Akademie zu Münster i/W. Prof. a. d. Universität zu Greifswald.

Band V.

OPPELN

Eugen Franck's Buchhandlung

Georg Maske.

Studien über Scarron.1)

III. Der Virgile travesti.

1.

Wenn man Scarron's
man Scarron's "Roman comique" als eine positive

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Kritik des in der französischen Litteratur des 17. Jahrhunderts herrschenden Ideals betrachtet, indem derselbe an Stelle des galanten, kavaliermässigen Lebens alltägliches, bürgerliches zur Darstellung brachte, so erscheint der Virgile travesti" desselben Autors als die negative Seite dieser Kritik. Denn die Personen der Aeneis, welche so ziemlich dem Heldenideale des 17. Jahrhunderts entsprechen, werden darin zu gewöhnlichen Menschen ungewandelt, ohne ihre Namen und Titel zu verlieren, und offenbaren so die Nichtigkeit der eleganten Welt damaliger Zeit, welehe ja auch von Molière später so scharf gegeisselt wurde. Jedoch nicht aus dem kritischen Geiste Scarron's, auch nicht aus der Absicht, dem herrschenden Geschmacke entgegen zu treten, ist der Virgile travesti erwachsen, sondern wesentlich aus der Lust am Scherze, welche den Dichter beseelte, wenn schon jenen beiden Faktoren ein gewisser Einfluss auf die Entwickelung und Abfassung des Gedichtes durchaus nicht abzusprechen ist. Virgil's Epos forderte ja sozusagen zu einer Travestie heraus. Es war zur Zeit der scheinbar höchsten Blüte des römischen Volkes geschrieben und wollte dessen Anfänge schildern. Ein sentimentalischer Dichter, um mit Schiller zu reden, wollte einen naiven Stoff behandeln; das war ein Unding. In den naiven Stoff, in das Jugendalter seines Volkes konnte sich Virgil nicht zurückdenken, und darum schilderte er die Personen und Zustände wie sie zu seiner Zeit waren, resp. ihm, dem idealischen Dichter, erschienen. Zu dieser innern Unwahrheit gesellte sich ein ungemeines Pathos, eine hochtönende Deklamation, besonders aber

1) Vgl. Bd. III, S. 1 ff. und 201 ff.

Zschr. f. nfrz. Spr. u. Litt. V.

1

die Jammergestalt des Aeneas, eines Helden in Worten und Gedanken, aber nicht in Thaten alles Momente, welche in dem Leser, vor allem in dem zum Scherze geneigten, mitunter unwillkürlich einen schalkhaften Gedanken aufsteigen lassen.1) Auch Scarron hat einen solchen Gedanken gehabt und demselben Ausdruck gegeben, indem er die Aeneis travestierte. Oder hat er vielleicht die 1633 zu Rom erschienene Eneide travestita des Italieners Giovanni Battista Lalli gekannt und ist durch diese zu seiner Travestie angeregt worden? Bei seiner Kenntnis der italienischen Sprache und Litteratur ist der Fall denkbar, aber weder mit Sicherheit auszumachen noch irgendwie von Bedeutung. Denn mag auch immerhin die italienische Dichtung den Gedanken an eine Travestie der Aeneis in Scarron hervorgerufen haben, so ist doch dieser Gedanke so originell ausgeführt, die Travestie so frei von irgend welcher Nachahmung, dass von einem Einflusse des italienischen Werkes auf das französische keine Rede sein kann.

Virgil's Aeneis war für eine Travestie wie geschaffen, viel mehr als die Werke Homer's, Ovid's, Lucan's, welche nach Scarron's Vorgang späterhin ebenfalls travestiert worden sind. Denn nicht bloss hatte sie, wie schon bemerkt wurde, in ihrem eigensten Wesen etwas an sich, was zur Travestie verlockte, sondern sie war auch eins der damals in Frankreich am meisten bekannten und gelesenen Werke des Altertums.) Daher konnte eine Travestie der Aeneis von vornherein auf eine grosse Anzahl Leser rechnen. Zu diesen grossen Vorzügen, welche eine Travestie der Aeneis vor anderen derartigen Werken voraus hatte, kam noch ein höchst bedeutsamer hinzu: die Helden Virgil's entsprachen ganz dem Ideale des 17. Jahrhunderts. Unter Augustus war das staatliche Leben in Rom fast dasselbe, wie in Frankreich unter Ludwig XIII. und Ludwig XIV. Nach einem langen, inneren Kampfe war eine starke Monarchie entstanden, und der Adel suchte für den Verlust der politischen Machtstellung Ersatz

1) Die Parodie wagte sich schon sehr früh an die Aeneis. Auf einem pompejanischen Wandgemälde ist des Aeneas Flucht aus Troja mit seinem Vater auf der Schulter und seinem Sohne an der Hand dargestellt; statt der drei Trojaner sehen wir die Handlung durch drei Hunde versinnbildlicht. Cf. Panofka: Parodieen und Karrikaturen auf Werken der klassischen Kunst. Abhandl. der Akad. d. Wissensch. zu Berlin, 1851. p. 5.

2) Von 1603-1649 erschienen in Frankreich nicht weniger als 12 Übersetzungen des Virgil. Cf. Heyne: P. Virgilius Maro. 3. ed. Paris, 1822. T. VII, pag. 551–561. An italienischen Übersetzungen zähle ich aus jener Zeit nur 1, ebenso 1 englische, 2 spanische, 1 portugiesische, 1 deutsche, 1 holländische.

und Trost in der Beschäftigung mit der Kunst und Litteratur.1) Eine solche Zeit hatte die Aeneis geschaffen was Wunder, dass eine Zeit von demselben Gepräge in Virgil's Helden ihre eigenen Ideale verkörpert sah? Die Personen des römischen Gedichtes glichen in der That so ziemlich vollkommenen Kavalieren des 17. Jahrhunderts. Deshalb stand die Travestie Scarron's nicht bloss mit den Helden Virgil's in scharfem Kontrast, sondern auch, was ebenso wichtig war, mit dem damaligen Heldenideale, wodurch sie einen überaus lebensfrischen Ton erhielt. Diese Umstände: die zu einer Travestie herausfordernden Eigenheiten der Aeneis, die weit verbreitete Kenntnis Virgil's und die Übereinstimmung seiner Helden mit dem Ideale des 17. Jahrhunderts machten ohne weiteres Scarron's Werk den übrigen Travestieen jener Zeit überlegen. Dazu kam die unerschöpfliche Fülle der Komik, welche bei Scarron nicht gekünstelt war, sondern seinem innersten Gemüte entquoll, die Meisterschaft in der Darstellung, sowie die gewandte Behandlung der Sprache. So ist denn der Virgile travesti die beste der zahlreichen Travestieen jener Zeit, innerhalb deren er dieselbe Stelle einnimmt, wie der Roman comique unter den bürgerlichen und komischen Romanen des 17. Jahrhunderts.

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2.

Der Virgile travesti en vers burlesques" erschien in den Jahren 1648-1653. Mit grosser Freude hatte Scarron das Werk begonnen, so dass er in der Widmung des ersten Buches versprach, von Monat zu Monat ein neues Buch folgen zu lassen; 2) innerhalb eines Jahres sollten alle 12 Bücher der Aeneis travestiert sein. Aber der Dichter hat sein Versprechen nicht gehalten; im Anfange des Jahres 1649, wo das Werk hätte fertig vorliegen sollen, waren erst zwei Bücher erschienen. Wie leicht and schnell Scarron auch arbeitete, dieses Werk wurde ihm doch auf die Dauer unerträglich; er sollte ewig scherzen, ewig ein lustiges Maskenspiel treiben, das konnte selbst ein Scarron nicht. 1648 zweifelt er schon, ob er die Kraft und Ausdauer habe, den Virgile travesti zu vollenden.") Aber das Werk war einmal

1) Cf. Lotheissen: Geschichte der französ. Litt. im 17. Jahrh. 1879. Bd. II, pag. 79.

2) Scarron konnte wohl ein solches Versprechen geben; das fünfaktige Lustspiel „Jodelet, ou le Maître-Valet hat er in 3 Wochen geschrieben. Cf. Œuvres de Scarron, Amsterdam (Wetstein) 1737. T. I. pag. 70.

*) Cf. Combat des Parques et des Poëtes sur la mort de Voiture. Euvres de Scarron. 1737. T. VIII, pag. 38.

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