seiner Einleitung zur Misanthropübersetzung: The Great French Triumvirate, London 1898, S. 97 ff.) Aber mit den historischen Misanthropen des Altertums hat Molière's Alceste, im Gegensatz zu Shakespeare's Timon von Athen, nichts gemein als diese Gattungsbezeichnung. Alceste ist sonst ganz ein Erzeugnis der Zeitumstände und der Stimmung des Dichters. Diese Zeitverhältnisse sind nun nicht nur wichtig für die Entstehung des Misanthropen, sondern auch in gleichem Masse für die seiner englischen Nachahmungen. Der Misanthrop, das einzige Stück Molière's, das in den höheren und dem Hofe nahestehenden Kreisen spielt, enthüllt uns deutlich das Leben und Treiben der Gesellschaft unter Ludwig XIV.; er zeigt als wahre Komödie ein getreues Bild der damaligen Sitten oder vielmehr Unsitten. Wie sehr nun gerade die gesamte Welt unter dem Einflusse dieses glänzenden Hoflagers zu Versailles stand, ist ja bekannt, aber die Geschichte zeigt uns kein traurigeres Beispiel entsittlichender Nachahmung als das England während der Restaurationszeit (vergl. Charlanne: L'influence française en Angleterre au XVII. siècle, Paris 1906). Als man dort dem grossen Vorbilde bis ins Kleinste nacheiferte, blieb die Literatur nicht zurück, im Gegenteil, die französische Dichtkunst wurde in England noch mehr als in anderen Ländern ein Gebot der herrschenden Mode. Es ist ganz natürlich, dass in einer Zeit der übertriebensten Lebenslust, des äusseren Glanzes und der inneren Hohlheit, wo man um jeden Preis witzig und geistreich zu erscheinen suchte, das Lustspiel die Bühne völlig beherrschte, zumal Karl II. seinem Hofe in allen Lebenskünsten und Genüssen ein Lehrmeister war: ,, ce genre convenait mieux à ses habitudes d'esprit, à son tempérament de joyeux viveur“ (Charlanne 482). Da nun die englischen Lustspieldichter dieselben Anschauungen und Sitten, nur noch verschlimmert durch offene Schamlosigkeit, in London und am Hofe fanden wie Molière in Paris und Versailles, so war es eine weitere, natürliche Folge, dass man überall auf ihn zurückgriff und ihn nur allzu getreu nachahmte. Alle grösseren und kleineren Dichter, und es gab deren sehr viele, stürzten sich auf ihn: „Molière, plus que Cor neille, plus que Racine surtout, fut connu, pillé sans pitié, imité, plagié sans vergogne en Angleterre au XVII. siècle, et un poète anglais, D'Urfey, avait de bonnes raisons de dire: Molière est complètement dévalisé" (Charlanne 490). Zur Erreichung desselben Zweckes bediente man sich derselben Mittel, aber es fehlte ihnen der tiefe, sittliche Ernst, die höchste Aufgabe des wirklichen Lustspieldichters zu vollbringen. Ihre Zuhörer durch glänzende Einfälle, sprudelnden Witz und geistreichen Dialog zu unterhalten, gelang ihnen wohl; ihre Zeit aber durch rücksichtslose Geisselung aller Schwächen und Fehler zu bessern, daran hinderte sie ihre eigene Gesinnung, dazu waren sie viel zu sehr creatures of their age" (Macaulay: Critical and Historical Essays. Tauchnitz-Edition, Vol. 188. S. 155). Sie standen nicht schauend und tadelnd über ihren Mitmenschen: sie brachten nur auf die Bühne, was sie selbst taten, und was das Vergnügen derer war, die sie für das Amüsement belohnten. Denn für viele war das Dichten auch nur Mittel zum Zweck, zum Karrieremachen. Die Dichter sind vielfach mit Stellen belohnt worden und zum Teil in hohe Ämter aufgerückt, z. B. Congreve (vergl. Thackeray : The English Humourists. Tauchnitz-Edition, Vol. 277. S. 53 ff.). So machten sie den Wahlspruch ihrer Gönner zu ihrem eigenen und predigten in allen Stücken: Money is for youth, love is for youth, away with the old people." . . . „Fathers, husbands, usurers are the foes these champions contend with." (Thackeray: S. 67, S. 66.) Wesentlich dem Einfluss des Misanthropen ist es zuzuschreiben, wenn sie sich zuweilen auf ihre Pflicht besannen und versuchten, gegen die verdorbenen Sitten ihrer Zeit einzuschreiten und ihrer Mitmenschen Heuchelei und Gemeinheit zu zeigen, denn alle Stücke, die diese Tendenz haben, beruhen ganz oder zum Teil auf Nachahmungen des Misanthrop, vor allem The Plain Dealer" von W. Wycherley und „The Way of the World" von W. Congreve. Diese moralische Wirkung, die grösste, die ein Stück haben kann, hat der Misanthrop sicherlich selbst auf die Restaurationsdichter ausgeübt, wie er sie noch heute ausübt, was uns später " der Roman Miss Misanthrope" von McCarthy zeigen wird. Aber man braucht nicht einmal andere Bücher zu lesen, um diese Wirkung zu verspüren, wohl ein jeder fühlt sie selbst, wenn er den Misanthropen, dieses in der Gesamtliteratur aller Völker einzig dastehende Werk" liest (Lindau: Molière, Leipzig 1872 S. 70). Wohl ein jeder hat das Gefühl, dass eigene Lebenserfahrung und bittere Enttäuschungen aus dem Stücke sprechen, und auch Goethe hatte es, als er sagte: „Ernstlich beschaue man den Misanthropen und frage sich, ob jemals ein Dichter sein Inneres vollkommener und liebenswürdiger dargestellt hat" (in seiner Kritik über Jules Tascherau's Histoire de la vie et des ouvrages de Molière, Paris 1828). Kaum ein Stück hat deshalb auch eine solche Flut von Fragen heraufbeschworen, hat von Donneau de Visé an bis zur Gegenwart eine gleich grosse Literatur hervorgerufen. Rousseau, Lessing, Schlegel, Voltaire, Goethe bis zu den modernen Molièreforschern haben sich mit Form, Inhalt und Charakteren des Stückes beschäftigt. Im heftigsten Streit sind die Gelehrten entbrannt, ob Alceste eine komische oder tragische Figur sei, ob Zeitgenossen als Vorlage zu ihm und den anderen Personen gedient haben, ob Célimène und Alceste ein Abbild des unglücklichen Ehepaares Armande Béjart und Molière seien. Nur darin sind alle einig, dass uns Molière hier den unglücklichsten Teil seines Lebens enthüllt, dass der Misanthrop der poetisch verklärte Ausdruck aller seiner Leiden, die ihn damals heimsuchten, ist (vgl. Mahrenholtz: Molière, Heilbronn 1883 S. 152). Wie weit aber der so viel erörterte Subjectivismus Molière's im Misanthropen und den anderen Stücken geht, ist gerade in letzter Zeit wieder eine heissumstrittene Frage. Vgl. hierüber: Rigal: La Comédie de Molière: L'Homme dans l'oeuvre. (Revue d'histoire littéraire de la France. 1904. XI. Heft I.) Voßler: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literatur. CVIII. S. 461 ff. Ph. Aug. Becker: Literaturblatt für germ. und röm. Philologie. XXII. 68 ff. Schneegans: Molière's Subjectivismus. Zeitschrift für vergleich. Lit.-Geschichte. XV. 407 ff. Ph. Aug. Becker: Molière's Subjectivismus. (Entgegnung). Ebendort. XVI. S. 194 ff. H. Suchier: Molière's Kämpfe um das Aufführungsrecht des Tartuffe. Halle 1903. Mangold: Der neueste Streit Becker-Schneegans über Molière's Subjectivismus. Zeitschrift für franz. und engl. Unterricht. VI. 1907. Heft 2. S. 114-127. All dieser Zauber des Persönlichen, das den Misanthropen so anziehend, ja zum Teil so tragisch wirken lässt, geht in den englischen Dichtungen von vornherein verloren denn wo er sich zeigt, ist er ganz anderer Natur und damit der schönste, rührendste Bestandteil des Stückes überhaupt. Constable (S. 97 ff.) nennt den Alceste mit Recht einen „born" Misanthrop im Gegensatz zu Timon von Athen (vgl. auch Schweitzer: Molièremuseum. 1879-1884. Heft IV. Aufsatz von Vesselowsky und Mangold. S. 164 ff.). Der starke Trieb für das Gute und Rechte, dem er wie einer inneren Stimme folgen muss, ist ihm angeboren. Man kann sich den Alceste eigentlich nur auf dem Lande, fernab vom Getriebe der Welt, erzogen denken. An die ungesunde Luft des Hofes und der Grossstadt versetzt, sieht er sich auf einmal rings von Menschen umgeben, deren Tun und Reden seinem inneren Gefühl vollkommen widersprechen, er sieht aber auch, dass er der bei weitem Bessere ist und nimmt deshalb im Vertrauen auf sein gutes, ehrliches Recht den Kampf gegen die Gesellschaft mit allen ihren Vorurteilen und Fehlern auf. Er hat aber nicht nur mit dieser, er hat auch, und hierin liegt sein tragischer Konflikt, mit seiner Liebe zu kämpfen. Sein Verstand muss ihm sagen, dass diese seiner unwürdig und erniedrigend ist, und das Herz kann sich doch nicht von ihr losreissen. Dass ein so edler Mensch wie Alceste gerade eine boshafte, heuchlerische und abgefeimte Kokette lieben muss, ist entschieden eine grausame ironie de la vie", in der Davignon (Molière et la vie. Paris 1903. S. 293.) die höchste und wahre Komik sieht. Es ist nur allzu verständlich, wenn Alceste im Kampfe gegen Heuchelei, Ungerechtigkeit und Verleumdung, die sein gutes Recht zu nichte machen, und die ihm überall, selbst bei der Geliebten, begegnen, seine eigene Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe zu sehr betont und übertreibt. Die Misserfolge und Zurückweisungen, die er erleidet, bedingen bei einem solchen Charakter eben nur ein um so schrofferes Auflehnen, einen um so hartnäckigeren Kampf. So artet die allzugrosse Aufrichtigkeit in eine Ungezogenheit, eine Untugend und Schwäche aus, die zwar unser Lachen hervorruft, aber dieses Lachen benimmt ihm von unserer Hochachtung nicht das Geringste" (Lessing: Hamb. Dram. St. 28). Wir haben trotzalledem das Gefühl, dass sich hier eine Seele verzweifelt gegen die Welt wehrt, die ihr ein Ideal nach dem andern zertrümmert. n Unter seiner Schwäche leidet Alceste selbst am meisten; es ist wieder eine „ironie de la vie", dass eine an und für sich so hohe Tugend, die Aufrichtigkeit, dem Besitzer nur Leiden schafft und ihn überall Kränkungen erfahren lässt, während sich rings um ihn Heuchelei und Lüge in hohen Stellungen und Ehrenplätzen breit machen und brüsten. Zum Schiffbruch in der Welt fügt sich der für einen solchen Charakter viel schlimmere Schiffbruch in der Liebe, und hier zeigt sich die höchste Komik des Stückes, hier lacht Molière über seine eigene Torheit. Es ist das Lächeln des Humors, das Lächeln unter Tränen. Dieser Humor ist ein Erzeugnis der feinsten Kultur und der höchsten Moral." (Schneegans: Molière. Berlin 1902. S. 159.) Obwohl sie weder diese Kultur noch diese Moral besassen, wagten sich die Dichter der Restaurationszeit an den Misanthropen und versetzten ihn in die dumpfe, schwüle Luft der Lüsternheit und Leidenschaften. Wirklich grosse Dichter werden sich nie ernsthaft an dem Misanthropen vergreifen: für sie wird er stets ein unübertreffliches, unantastbares Meisterwerk sein und bleiben. |