Images de page
PDF
ePub

die deutschen Gedichte Nachahmungen des Dekameron sind und Boccaccio die deutschen Gedichte gewiss nicht nachgeahmt hat, so ist es sehr wahrscheinlich, dass ihre gemeinschaftliche Quelle ein verloren gegangenes Fabliau war. Diese zwei Novellen sind:

A. Girolamo und Salvestra (T. IV. N. 8), welche dem zweiten Theil des Gedichts „Frauen treue" (bei Hagen Nr. 13. Bd. I. S. 257) sehr ähnlich ist. Auch in diesem stirbt der Liebhaber im Zimmer der Geliebten, die seine Liebe nicht erwiedern will, aber dann aus Reue und Schmerz an seinem Grabe stirbt.

Da legte man sie beide
mit jamer und mit leide

In ein grap die holden (v. 385).

Die unglücklichen Liebenden, welche in ein Grab gelegt oder nahe bei einander begraben werden, finden wir oft in englischen und schottischen Balladen. So in „Fair Margaret and sweet William" (Percy, Reliques III. 105), „Lord Thomas and fair Annet" (Roberts S. 306), The Douglas Tragedy" (Roberts S. 467).

Wenn es in Letzterer heisst:

Out of the lady's grave grew a bonny red rose

And out o' the Knight's a brier,

so begreifen wir nicht recht, warum aus des Liebhabers Grab ein Dornstrauch wächst, und wir müssen bis nach Kurdistan gehen, um die Erklärung zu finden.

Nach einer kurdischen Volkssage erzählte ein syrischer Jakobit zwei deutschen Gelehrten folgendes:

Manno und seine Geliebte Sine starben gleichzeitig und wurden in ein Grab gelegt. Bakko, der Urheber ihres Todes, wurde von Sine's Bruder Tschako getödtet. Ein Tropfen seines Blutes fiel in das Grab der Liebenden und wurde zwischen

den beiden zum Dornstrauch, der noch heute auf dem Friedhofe in Dschefire gezeigt wird. 1)

Die kurdische Sage, indem sie den Dornstrauch dem Blute des Mörders und nicht dem Körper des unglücklichen Liebenden entspriessen lässt, ist logischer als die englische.

B. Der Teufel in der Hölle (T. III. N. 10). Von dieser gibt das deutsche Gedicht „die Teufelsacht" (Hagen Nr. 28) eine einfachere Form. Wenn ein Fabliau zu Grunde lag, so war es wahrscheinlich auch nur eine einfache Anekdote, und erst Boccaccio machte sie zur komischen Novelle, indem er dem Eremiten die Rolle des Mannes gab.

Uebrigens war die schmutzig-derbe Schilderung der Naivetät junger Mädchen in den Zeiten der frauendienenden Ritter ein beliebtes Thema bei deutschen und französischen Reimschmieden, so dass wir zahlreiche Variationen dieser Anekdote finden; so bei Deutschen: „Das Häselein“, „der Sperber“ (Hagen Nr. 22, 23); bei Franzosen: l'éscureul, le polain (Barbazan II. 187, 197) u. s. w. Ein Gegenstück dazu ist das Fabliau De la sorisete des estopes (Méon I. 310), wo ein naiver Mann von seiner Frau unverschämt gefoppt wird.

Die meisten Novellen, bei denen man mit grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit vermuthen kann, dass sie auf Fabliaux beruhen, sind unanständigen Inhalts; aber man darf Boccaccio nicht beschuldigen, dass er sich gerade die Unanständigsten zur Nachahmung ausgewählt; er wählte eben anständige und unanständige in dem Verhältnisse, wie sie vorhanden waren, und der überwiegend grösste Theil der Fabliaux erzählt eben galante Abenteuer in einer allzufreien, mitunter faunisch lüsternen Sprache. Wieviel niedrig gemeine, schmutzige und unmoralische Erzählungen kommen auf eine von rührender Treue und unschuldiger Liebe wie Aucasin et Nicolette oder Le buisson d'epine? Legrand hat die meisten

1) Der neu-aramäische Dialekt des Tur Abdin...., von Eugen Prym und Albert Socin, Göttingen 1881, zweiter Theil S. 7 und Anm. S. 375.

der von ihm übertragenen Fabliaux purificirt, viele, bei denen eine solche Operation nicht möglich war, ganz weggelassen, und doch finden sich in seiner Sammlung viel mehr verfängliche Erzählungen als im Dekameron. Welche Masse indecenter Fabliaux findet sich in Barbazan's Sammlung, darunter manche, wie une femme pour cent hommes, du vilain à la c.... noire, du fevre de Creeil, de la pucele qui abevra le polain etc. von einer gemeinen Schmutzigkeit, von der uns das Dekameron kaum einen Begriff geben kann. 1)

Solche Erzählungen wurden bei Festlichkeiten und am Herde der edlen Ritter, ja sogar der Könige, in Gegenwart von Frauen und Kindern vorgetragen, ohne den mindesten Anstoss zu erregen. Waren die Frauen jener Zeit so erhaben tugendhaft, dass solche Erzählungen sie nicht verletzen konnten, oder waren sie wirklich so, wie das Fabliau du manteau mal taillé die Hofdamen der Königin Ginevra schildert?

1) Besonders zahlreich sind die unanständigen Erzählungen in der Sammlung von Montaiglon und Raynaud. Jubinal's Sammlung enthält nur wenige unanständige Fabliaux, dagegen aber sehr viele „Dits", welche mehr allgemeine Betrachtungen und Lebensregeln geben, oder die Schwächen und Laster einzelner Stände schildern. Auch viele contes devots finden sich darin, und ein sonderbares Stück unter dem Titel Fatrasies (II. 208) an dessen Schluss der Verfasser sagt: je versefie en dormant.

IV. Italien.

§ 1. Die erzählende italienische schöne Literatur vor Boccaccio wird am Besten durch eine Sammlung von Novellen repräsentirt, welche im Laufe des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts entstanden, und deren Verfasser ganz unbekannt sind; von denen aber manche, obwohl mit wenig Grund, Dante, Brunetto Latini und Francesco Barberini zugeschrieben werden.

Die Sammlung trägt die Titel Libro di novelle e di bel parlar gentile, Cento novelle antiche oder Novellino, letzteren zuerst in der Ausgabe von 1836.

D'Ancona 1) vermuthet zwar, dass diese Novellen nur einen Verfasser hatten, der ein florentiner Kaufmann und Gibelline war; aber einen bestimmten Namen zu nennen ist er doch nicht im Stande, und so lange man kein Manuscript dieser 100 Novellen findet, das sie einem bestimmten Verfasser zuschreibt, oder irgendwie verlässliche Merkmale bietet, um sie einer mit Namen genannten Person zuzuschreiben, müssen wir an dem traditionellen Glauben an mehrere Verfasser oder Sammler festhalten, wofür auch die Verschiedenheit der vorhandenen Manuscripte an Inhalt und Form der Novellen spricht.

Wenn D'Ancona diese Variationen damit zu erklären sucht, dass man zu jener Zeit keinen rechten Begriff von literarischem Eigenthum hatte und Jeder sich berechtigt glaubte, das Werk

1) Le fonti del Novellino, in Romania 1873 S. 416 sq.

eines Andern beliebig zu ändern, so muss man dagegen fragen, warum man sich nicht ähnliche Freiheiten mit dem Dekameron erlaubte. Bis jetzt hat man aber kein Manuscript gefunden, das unter dem Titel Dekameron etwa achtzig Novellen Boccaccio's und zwanzig von, andern Verfassern enthielte. Warum soll also gerade der Verfasser der Cento novelle antiche vogelfrei gewesen sein?

Ein grosser Theil dieser Novellen erzählt Begebenheiten aus der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts; die fünfzehnte (ed. Borghini) enthält einen Witz, den Uguccione della Faggiola als alter Mann gemacht haben soll, wurde also wahrscheinlich erst nach seinem 1319 erfolgten Tode aufgeschrieben; die sechzehnte (ed. Borghini) spricht von Ricciardo de' Manfredi, der 1340 starb. Es ist daher zu vermuthen, dass diese Novellen, denen erst im sechzehnten Jahrhundert der Beiname antiche gegeben wurde, erst im zweiten Viertel des vierzehnten Jahrhunderts, ja vielleicht erst nach Boccaccio gesammelt wurden. Die wenigen Manuscripte, welche die Herausgeber im sechzehnten Jahrhundert benutzt haben, weichen in Zahl und Anordnung der Novellen von einander ab, und ihre Zahl wurde erst in den gedruckten Ausgaben, wahrscheinlich in Nachahmung des Dekameron, auf Hundert gebracht. Wenn wir also sagen, dass Boccaccio Novellen aus den Cento novelle antiche genommen oder nachgeahmt hat, so ist darunter zu verstehen, dass er Erzählungen benutzte, die zu seiner Zeit im Munde des Volkes lebten, oder auch hie und da zu Papier gebracht waren, und die jetzt in der unter dem Titel Cento novelle antiche vorhandenen gedruckten Sammlung enthalten sind, nicht aber, dass ihm ein diesen Titel führendes hundert Novellen enthaltendes Manuscript vorgelegen habe.

Ueberhaupt waren Manuscripte dieser Novellensammlung immer sehr selten und sind einige erst in neuerer Zeit wieder aufgefunden worden.

Von den jetzt bekannten acht Codices sind vier aus dem

« PrécédentContinuer »