die ritterlichen Gattungen auch noch eifrig gepflegt wurden. In Italien hatte das Ritterwesen nicht recht gedeihen können, frühzeitig hatte sich dort ein kräftiger wohlhabender Bürgerstand und mit ihm auch eine bürgerliche Literatur entwickelt; in Frankreich aber hatte sich die Chevalerie und die sie begleitende Literatur zur üppigsten Blüthe entfaltet. Die verschiedenen Culturzustände äusserten aber ihre Wirkungen auf die schöne Literatur in keinem Lande ganz unvermischt und ungestört. Das Alterthum, das zum Theil in schwachen Reminiscenzen und verzerrten Bildern fortlebte, zum Theil vorzüglich in Italien - zu neuem kräftigem Leben erwachte, machte seine Einflüsse geltend. Der lebhafte Verkehr mit dem Orient, theils durch die Kreuzzüge, theils durch die Araber in Spanien und die Mongolen im östlichen Europa gefördert, brachte orientalische Bildungselemente nach dem Abendlande, und das Christenthum durchdrang wieder mit seinem eigenthümlichen Geiste die Cultur und Literatur Europa's. Diese verschiedenen Zustände und Einflüsse zeigen sich nicht nur in allgemeinen Zügen in der Literatur, sondern sie lassen sich oft auch in ihren bestimmten Einwirkungen auf einzelne Werke nachweisen. Wollte man nun die schöne Literatur des Mittelalters mit Berücksichtigung aller dieser Umstände classificiren, so müsste man eine grosse Menge von Classen, Gattungen und Spielarten aufstellen, und würde doch zu keinem reinen und befriedigenden Resultate gelangen. Indem ich also hier Repräsentanten der verschiedenen Gattungen der erzählenden Literatur, die als Vorläufer Boccaccio's gelten können, aufführe, will ich sie nur nach ihrem vorherrschenden Charakter classificiren, und dabei auch die aus andern Gattungen aufgenommenen Züge andeuten, ohne mich in ein minutiöses Abwägen und Abmessen der verschiedenen Elemente einzulassen. II. Orientalisches. § 1. Das orientalische Element zeigt sich uns am reinsten in den Märchen der 1001 Nacht, über deren Verfassser und Entstehung sich aber nichts Bestimmtes sagen lässt. 1) Sie sind seit Anfang des 18. Jahrhunderts in Europa so allgemein bekannt geworden, dass ein näheres Eingehen auf ihren Inhalt hier nicht nöthig ist, besonders da Boccaccio sie nicht benutzt und auch gewiss nicht gekannt hat. Der rege Handelsverkehr der Araber hat zwar ein bürgerlich-kaufmännisches Element in diese Erzählungen gebracht, so dass sie manches haben, was an das Dekameron erinnert; aber wie ist doch hier alles anders und orientalisch wunderreich! Die Betrüger und Schelme verlassen sich nicht auf ihren Spitzbubengeist allein, sondern nehmen auch die Zauberei zu Hilfe. Die Kaufleute erhalten häufig ihre Waaren von guten Geistern geliefert, machen ihre Geschäftsreisen auf dem Rücken von Djins und ihre besten Geschäfte mit wunderbaren Talismanen und Amuleten. Ihre liebsten Kunden sind verzauberte Prinzessinnen. Arme Handwerker finden ungeheuere Schätze, Wunderlampen und Zauberringe. Leute, die ihre Nebenmenschen ohne viele Mühe in Thiere verwandeln können, finden sich in jeder Stadt, und nur in sehr wenigen Erzählungen treten keine Geister auf. 1) Die verschiedenen Meinungen hierüber siehe bei: Grässe II 459, Dunlop 384, Liebrecht 412, Schlegel Essais. Bonn 1842 S. 520 sq. und Loiseleur Deslongchamps Essai historique, vor der Ausgabe der 1001 nuits. Paris 1838. Ebenfalls orientalischen Ursprungs sind die zwei im Orient und Occident weitestverbreiteten Sammlungen von Erzählungen und Märchen: Das Buch der Beispiele der alten Weisen und die Sieben weisen Meister, welche im Mittelalter nach Europa gekommen, häufig übersetzt und bearbeitet, auf ihren vielfachen Wanderungen sehr viel Occidentalisches in sich aufgenommen haben. Es wurden nämlich theils die in ihnen enthaltenen Erzählungen den europäischen Sitten und dem europäischen Geschmacke angepasst, theils andere ursprünglich europäische Erzählungen in die Uebersetzungen dieser Sammlungen eingeschoben. Sehr häufig wurden auch einzelne Erzählungen, mehr oder weniger modificirt, anderen Sammlungen einverleibt. § 2. Von diesen zwei Sammlungen ist unzweifelhaft indischen und wahrscheinlich buddhistischen Ursprungs das Buch der Beispiele, welches sich in abgekürzter Form als Pantschatantra (die fünf Bücher) in Indien erhalten hat, und dessen Sanskrittext zuerst von Kosegarten, (Bonn 1848), dann von G. Bühler und F. Kielhorn (1868 in Bombay, zweite Auflage 1879-81) herausgegeben wurde. Die erste directe deutsche Uebersetzung nach Kosegarten's Ausgabe und mehreren Handschriften gab Benfey, bereichert mit einer unübertrefflichen Einleitung, 1) und dieses Denkmal deutschen Geistes und deutschen Fleisses ist die hauptsächlichste Grundlage, auf welcher meine hier folgenden Mittheilungen über das Pantschatantra beruhen. Obwohl dieses Werk nicht zu den unmittelbaren Quellen 1) Pantschatantra. Fünf Bücher indischer Fabeln, Märchen und Erzählungen. Aus dem Sanskrit übersetzt, mit Einleitung und Anmerkungen von Theodor Benfey. 2 Theile. Leipzig 1859. Eine französische Uebersetzung gab Ed. Lancereau Paris 1871. Ausserdem gibt es noch eine 1851 in Athen gedruckte unvollständige griechische Uebersetzung von Demetrios Galanos. des Dekameron gerechnet werden kann, und Boccaccio sein orientalisches Original gewiss nicht, die europäischen Bearbeitungen vielleicht auch nicht gekannt hat, so finde ich es doch für nöthig, dessen Charakter und Schicksale hier ausführlich zu besprechen, da es wegen seines hohen Alters, seines interessanten Inhalts und seines grossen Einflusses auf die erzählende Literatur eines der wichtigsten Werke seiner Gattung ist. Der orientalische Charakter dieses Werks zeigt sich vor Allem an seinem in der Einleitung ausgesprochenen Zwecke. Hier wird nämlich erzählt, dass einst ein König, Amarasakti genannt, drei sehr dumme Söhne hatte, deren Erziehung ihm grosse Sorge machte. Auf Empfehlung seiner Räthe wendete er sich in dieser Noth an den weisen und gelehrten Bramanen Wischnusarman 1), und dieser verpflichtete sich die drei dummen Prinzen binnen sechs Monaten zu den gescheitesten Leuten in der Welt zu machen. Der König übergab ihm seine Söhne, und der Bramane brachte das versprochene Erziehungskunststück dadurch zu Stande, dass er die Prinzen die von ihm eigens zu diesem Behufe geschriebenen „Fünf Bücher" studiren liess. (Benfey II S. 1-3.) In der lateinischen Uebersetzung des Johann von Capua, welche auf einer hebräischen beruht, fehlt diese Einleitung und die einzelnen Erzählungen sind in den Antworten enthalten, welche der weise Sendabar dem Könige Disles auf dessen Fragen gibt. Diese beiden Personen heissen in der syrischen Bearbeitung Debascherim und Bidug, in der arabischen Dabschelim und Bidbah. Der hebräische Uebersetzer behielt den Namen des Königs bei, setzte aber anstatt des Bidbah (der in andern Bearbeitungen zum Pilpai ward) den durch die Mischle Sandabar, von denen weiter unten die Rede sein wird, unter den Juden bekannten, aus dem indischen Siddhapati 1) Ueber diesen Namen vergl. Benfey I S. 31. entstandenen Namen Sandabar. (Benfey I S. 12. 32. 55. 56. Kalilag und Damnag Einleitung S. XLVII.) Wieviel Wahres den Einleitungen des Pantschatantra und der andern Bearbeitungen seines indischen Stammwerks zu Grunde liegt, gehört nicht hieher, wohl aber entnehmen wir daraus, dass wir es mit einem Werke zu thun haben, dessen Zweck es ist, Prinzen in der Lebensweisheit zu unterrichten; also in jener Weisheit, die für künftige Könige nöthig ist. Es ist also das Pantschatantra ein Lehrbuch der Regierungskunst und hohen Politik, ein Handbuch für Fürsten, Minister und Höflinge (vergl. Benfey I. S. XV). Da es aber im Orient entstanden ist, so ist es auch für orientalische despotisch regierte Staaten berechnet, und ich würde keinem europäischen Fürsten oder Minister rathen nach den Maximen dieses indischen Principe" zu regieren. Von Königen und ihren Dienern heisst es darin: „Dem Herrn gebührt des Dienstmannes Leben, da er's „durch Sold erwarb; darum begeht er auch keine Sünde, wenn „er es ihnen nimmt. (Buch I. Str. 328. Bd. II. S. 84.) Wahr · und falsch, bald hart- bald freundlichredend, grausam, mit„leidig, bald habsüchtig bald freigebig, verschwenderisch und „grosse Schätz' erpressend, ist vielgestaltig eines Königs Weise, „der Buhlerinnen Treiben ganz vergleichbar." (Buch I. Str. 473. S. 124.) Unterthanen werden als Melkkühe betrachtet: Wie man Kühe zur rechten Zeit melkt, so warte man „des Unterthans; der Strauch, der Blüthen und Frucht trägt, „wird begossen und wohlgehegt." (Buch I. Str. 253. S. 63.) Dieses Buch, dessen ausgesprochener Zweck doch ist, einen, nach indischen Begriffen, guten Fürsten zu bilden, gibt uns eine traurige Vorstellung von indischer Moral und Lebensklugheit. Treulosigkeit wird darin offen gepredigt: „Verlassen soll man Rechtschaffene, Edle, Starke, mit „Brüdern fest Vereinte, und dem Siegreichen anhangen, wär' |