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XI.

Die Congreßpraxis.

3u S. 415. 416.

Die Congreffe waren bis vor Kurzem in der Hand der Pentarchie. Ein Regulativ für dieselben fand sich in den bereits S. 437 abgedruckten zwei Actenstücken des Aachener Congresses von 1818.

Beide Actenstücke, das Protokoll und die Declaration, befinden sich zwar in keiner vollkommenen wortgetreuen Uebereinstimmung, stehen aber auch in keinem sachlichen Widerspruche mit einander. Das Verhältniß unter ihnen war dieses. Das Protokoll ist wesentlich für die Unterzeichner und für Frankreich in Folge seines Beitrittes, also für die Großmächte selbst unter einander bindend; die Declaration, welche auf diplomatischem Wege den anderen Höfen mitgetheilt ist, enthält die gegen diese übernommenen Verpflichtungen. Die lettere weiset bestimmt auf die Grundsätze des Völkerrechtes hin, während das erstere in ausgedehnterer Weise auf die Marime der heiligen Alliance und auf die Verträge als Grundlage der Vereinigung Bezug nimmt, damit also den Gesichtspunkt andeutet, aus welchem die fünf Mächte die von ihnen in gemeinsame Berathung genommenen politischen Fragen zu beurtheilen entschlossen waren, sofern es nämlich an einer bestimmten völkerrechtlichen Lösung derselben fehlen sollte.

Die Declaration war demnach die allgemeine Norm für alle Regierungen des Europäischen Staatenkreises, welche sich derselben ausdrücklich oder stillschweigend anschlossen oder noch anschließen wollten; das Protokoll, die besondere Norm für die Großmächte, für die übrigen Mächte nur insofern, als sie daraus erfuhren, welche Behandlung sie in ihren Angelegenheiten von jenen zu gewärtigen hatten. Nach diesem Verhältnisse sollen daher auch beide Actenstücke in der gegenwärtigen Erörterung neben einander betrachtet werden.

Sie enthalten theils eine materielle, theils eine formelle Rechtsbestimmung. Jene besteht in der verpflichtenden Anerkennung eines Völkerrechtes, die aber freilich nur eine ganz allgemeine ist; leßtere ist die eigentlich praktische. Dieselbe nimmt für die paciscirenden Großmächte die Praxis der Monarchen - Congresse und diplomatischen Conferenzen in Anspruch und Aussicht mit einer größeren Tragweite, als wozu die Congreffe vormals gedient hatten, wozu aber bereits der Wiener Congreß

die Bahn gebrochen und sich vortheilhaft erwiesen hatte. Sie sollen dazu dienen,

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theils die eigenen Intereffen der Großmächte zu erörtern de discuter leurs propres intérêts;

theils sich mit Fragen zu beschäftigen, für welche irgend eine andere Regierung formell eine Intervention der fünf Mächte beantragt hat. Die weitere Analyse ergiebt Folgendes:

Gegenstände gemeinsamer Verhandlungen können selbstverständlichermaßen nur politische staatliche - Interessen und Fragen sein, deren

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Umfang keiner scharfen Begrenzung unterliegt.

Als Anlaß zu einer gemeinsamen Verhandlung mußte hiernächst angesehen werden:

1. der Antrag einer der Großmächte selbst, welche einen Gegenstand von eigenem Interesse für sie zur Discussion bringen will, natürlich auch einen Gegenstand von gemeinsamem Interesse für sie und alle übrigen, oder für die eine oder die andere der Großmächte; 2. das Interventionsgesuch irgend einer anderen Regierung (invitation im Protokoll, réclamation d'intervention in der Declaration genannt).

Voraussetzung war dabei im Jahre 1818 unstreitig eine legitime, anerkannte Regierung. Natürlich aber ließ sich in der Eristenz einer irgendwie factisch constituirten Staatsgewalt ein eigenes Interesse der Großmächte selbst als möglich denken, um deshalb in Berathung mit einander zu treten, sogar zu Gunsten einer solchen factischen Regierung, wie namentlich in der Griechen - Angelegenheit und später bei Belgien der Fall gewesen ist, wo die Lösung durch die Großmächte, wie sie erfolgt ist, nur aus ihrer Fürsorge für Erhaltung oder Herstellung des Europäischen Friedens, und in Betreff der Griechen allenfalls aus den Maximen der heiligen Alliance, die wohl auch eine Fürsorge für christliche Glaubensbrüder rechtfertigen konnten, ihre Erklärung erhält.

War nun ein möglicher Anlaß gegeben, so bestand doch keine Verpflichtung der Großmächte oder für jede einzelne derselben, darauf einzugehen, sondern es war der Zusammentritt und die gemeinsame Behandlung etwas durchaus Freiwilliges. Höchstens konnte man aus den Marimen der heiligen Alliance eine Verpflichtung ableiten, dem Anrufe eines Alliirten ein williges Ohr zu leihen. Rechtlich aber blieb jeder Großmacht die Befugniß der eigenen Prüfung, ob ein geeigneter Fall zu gemeinsamer Verhandlung gegeben sei.

Dieses Recht der freien Prüfung war selbstredend auch bei den Verhandlungen maßgebend. Jede Macht war unabhängig in ihren Meinungen

und Erklärungen; es galt keine Mehrheit der Stimmen. Fand eine Absonderung Statt, so mußte zwar denjenigen, welche über eine Ansicht und Maßregel einverstanden waren, zustehen, darnach ihrerseits zu handeln, natürlich aber nur, so weit es der Bestand des großen Gesellschaftsbandes, das Recht und die Selbständigkeit des widersprechenden Genoffen zulief.

Von dem Einverständnisse der Mächte allein mußte es auch abhän gen, ob noch ein anderer Souverän an den Verhandlungen und Beschlüssen Theil zu nehmen habe. Es bestand durchaus kein Forderungsrecht dieser Mächte auf unmittelbare Zulassung und Theilnahme an den Congreßverhandlungen selbst, wenngleich die Anwesenheit von Vertretern fremder befreundeter Mächte am Orte des Congresses nicht zu versagen - sein mochte und Verhandlungen mit denselben Seitens des Congresses oder der Conferenz vor sich gehen konnten. Nur derjenigen Macht, welche selbst auf Verhandlung einer Angelegenheit durch die vereinigten Großmächte formell angetragen hatte, ist im Protokoll ihr Recht, sich daran direct oder durch Vertreter zu betheiligen (de participer) ausdrücklich vorbehalten, was in der Declaration fehlt. Man hat also nicht unbedingt dieses Recht anerkennen wollen, sondern den Großmächten im einzelnen Falle die Entscheidung vorbehalten, ob ein derartiges Recht anzunehmen sei.

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Die demnächst gefaßten Congreß oder Conferenzbeschlüsse konnten nur Vertragsvereinbarungen der daran Theil nehmenden Mächte sein. Sie verpflichteten selbst denjenigen nicht, der ihre Intervention in Anspruch genommen hatte, und sie hatten nur dann die Kraft eines schiedsrichterlichen Urtheils, wenn den Mächten von den Betheiligten die Entscheidung einer Streitigkeit übertragen, war. Allerdings blieb es den Mächten vorbehalten, im eigenen Intereffe ihre Beschlüsse auszuführen, nur konnten sie nicht gegen das von ihnen selbst als Basis angenommene Völkerrecht so weit solches feste Normen darbietet - handeln.

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Das etwa ist es, was sich durch eine Analyse der Aachener Declaration grundsäßlich herausstellt.

Durch die Praxis der Congreffe und Conferenzen, welche sich an die Aachener Beschlüffe angeschloffen haben, ist denselben bisher keine größere Bestimmtheit gegeben worden.

Der erste Monarchencongreß zu Troppau, dann nach Laybach übertragen (1820, 1821), erhob den Kampf gegen die revolutionären Verfaffungsänderungen in Neapel und Piemont und autorisirte eine bewaffnete Intervention Desterreichs. Den Anlaß nahmen die alliirten Großmächte aus der Gefahr eines allgemeinen Brandes; aber man zog den

König von Neapel zur gemeinsamen Berathung, wobei Kaiser Franz I. ihm schrieb:

En nous décidant à cette délibération commune, nous n'avons
fait que nous conformer aux transactions de 1814, 1815, 1818,
transactions dont V. M. ainsi que l'Europe, connait le caractère
et le but, et sur lequel repose cette alliance tutélaire, uniquement
destinée à garantir de toute atteinte l'indépendance et l'intégrité
territoriale de tous les États, et à assurer le repos et la prospé-
rité de l'Europe par le repos et la prospérité de chacun des pays
dont elle se compose.
(Martens, N. R. IX, 586.)

Indessen hat sich Großbritannien an dem damaligen Verfahren nicht mitbetheiligt; das Cabinet von St. James (Lord Castlereagh) hat seine Bedenken dagegen erhoben, die übrigen Großmächte gleichwohl machen lassen.

Einen ähnlichen Verlauf hatte der Congreß zu Verona (1822, 1823). Er richtete sich gegen Spaniens Verfassungswerk und Cortesregierung; der Congreß, im Widerspruche mit Großbritannien, gab einer Franzöfischen Intervention nach.

Eine bestimmtere Gestalt nahmen die Londoner Conferenzen in Betreff der Niederländisch-Belgischen Angelegenheiten unter Mitbetheiligung aller fünf Großmächte an. Das Merkwürdige hierbei war besonders:

Der Anlaß war vom Könige der Niederlande gegeben, welcher die conciliatorische Vermittelung der Großmächte für die Niederländischen Angelegenheiten und vornehmlich wegen Herbeiführung eines Waffenstillstandes nach dem status quo bis zur definitiven Erledigung nachgesucht hatte.

Die Bevollmächtigten der fünf Großmächte nahmen hierauf die Angelegenheit ganz in ihre Hand. Sie verfuhren als Schiedsrichter. Ihre in den verschiedenen Protokollen niedergelegten Beschlüsse waren zumeist kategorische Regulative für die streitenden Theile. Zur Vorbereitung ihrer Beschlüsse, zur Ausführung derselben gebrauchte die Conferenz eigene Commissarien. Der König der Niederlande ward zur Theilnahme an den Verhandlungen und Beschlüssen selbst nicht berufen, worüber er sich vergebens beschwerte; in der That behandelte man das Niederländische Gouvernement ebensowohl als Partei, wie die Vertreter der abfälligen Provinzen und die Conferenz hat schließlich die definitive Auseinanderseßung herbeigeführt, allerdings nicht ohne bewaffnete Intervention von Frankreich und England und nachdem zuvor sämmtliche Großmächte mit Belgien den Tractat vom 15. November 1831 abgeschlossen hatten, der dasselbe als souveränen Staat anerkannte.

Nicht ohne Grund hat das Verfahren der Conferenz mit ihren Protokollen Anstoß erregt, und die Rechtfertigung, welche für dasselbe im 19. Protokolle vom 19. Februar 1831 gegeben ist, möchte schwerlich jeden Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens beseitigen.

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Sie war zu einer Cooperation mit der Niederländischen Regierung gegen die Belgische Revolution in Anspruch genommen; zu einer conciliatorischen Vermittelung der eingetretenen Spaltung in einem durch die Waffen und die Verträge von 1815 geschaffenen Staate; sie übernahm aber aus eigner Macht die Rolle des Schiedsrichters zwischen zwei Parteien und dictirte, was geschehen sollte, zuletzt noch mit Anwendung und beziehungsweiser Zulassung von Waffengewalt, das im Jahre 1815 geschaffene Reich in zwei Theile scheidend.

Die Logik oder Sophistik der Rechtfertigung läuft im Wesentlichen darauf hinaus: die Schöpfung eines einigen Königreiches der Niederlande war ein Irrthum; die Mächte, die es geschaffen, waren nach erkanntem Irrthum sich und den Gesammt - Intereffen Europa's schuldig, für die allgemeine Sicherheit und die Herstellung des Friedens eingreifend zu sorgen.,,Chaque nation a ses droits particuliers; mais l'Europe aussi a son droit; c'est l'ordre social qui le lui a donné!“

Richtig ist, daß die Conferenz ihre Beschlüsse nicht geradezu aufge= drungen, sondern ihre Annahme von den Betheiligten Schritt für Schritt erwartet hat. Diese selbst haben gegen einzelne Punkte Protest erhoben und fernere Beschlußnahmen herbeigeführt. Allein welchen Widerstand konnte der Eine oder Andere von ihnen fünf Großzmächten wirksam entgegen sehen!

Ein weniger verleßendes Verfahren würde gewiß stattgefunden haben, wenn das Niederländische Gouvernement bei den Verhandlungen der Conferenz unmittelbar zugezogen wäre, wie es selbst der Congreß von Troppau- Laybach mit Neapel nöthig erachtet hatte und auch wohl nach dem Aachener Protokoll als Regel anzusehen ist.

Dem richtigen Gesichtspunkte conciliatorischer Gesammtverhandlung gemeinsamer Intereffen der Großmächte mit den Betheiligten hat man offenbar auch bei den Pariser Conferenzen im Jahre 1856 Rechnung getragen. Er allein entspricht der Unabhängigkeit und rechtlichen Gleichheit der Staaten.

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Dabei ist abgesehen von der hohen Pforte, welche doch wohl nicht in allen Europäischen Angelegenheiten zu hören sein wird noch eine sechste Macht eingetreten.

1) (Martens) Murhard, Rec. I, 226.

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