Wilhelm Bölsches Gedanken über das Erlernen fremder Sprachen. • Wilhelm Bölsche hat sich durch seine naturwissenschaftlichen und ästhetischen Aufsätze und Bücher aufs Vorteilhafteste bekannt gemacht, er gehört zu den am meisten gelesenen Autoren auf diesen Gebieten (das beweisen die schnell aufeinander folgenden Auflagen seiner Werke), und er ist für viele in mancherlei Fragen eine Art Gewissensrat geworden, ähnlich wie Professor Friedrich Paulsen in Berlin auf anderem Felde. Wenn sich ein derartig achtunggebietender Schriftsteller auch einmal mit der Schule und mit dem Erlernen der neueren Sprachen beschäftigt, so sollen ihn die vom Bau mindestens anhören. Es scheint aber, als ob der letzte der Aufsätze seines 1904 erschienenen Sammelwerkes Weltblick, der schon früher in der Wiener Zeit veröffentlicht worden und Gedanken über die Schule betitelt ist, nicht die Beachtung gefunden hat, die er verdient. Behandelt er doch eine Fülle für die Schule und ihre fernere Entwickelung bedeutsamer Fragen. Nachdem auch B. das so oft gehörte Klagelied angestimmt hat, dass unsere höhere Schule jeder Gattung nur unbehagliche Erinnerungen bei den Erwachsenen wachruft, forscht er den Gründen dieser Stimmung nach und findet sie darin, dass sich die Schule die Erfindung der Schrift,,,eine Schutzanpassung ersten Ranges für das Gedächtnis", noch nicht genug zu nutze gemacht hat, indem sie das Gedächtnis zu viel belastet mit Wissensstoff, der doch jederzeit für den zu erreichen ist, der zu lesen versteht. Ausser der „Erziehung zum Buch" hat die Schule noch die andere Aufgabe, das Assoziationsgedächtnis, die Gabe der raschen Verknüpfung zwischen verschiedenen Wissensgebieten, auszubilden. Nun folgt der hier interessierende Teil des Aufsatzes über Zeitschrift für franz. und engl. Unterricht Bd. IV. 25 das Erlernen fremder Sprachen. Dass gerade die Schulmänner für vorgeschritten" gelten, die das Sprechen und Schreiben der fremden Sprachen in den Vordergrund rücken, erregt Bölsches ganze Verwunderung! Steht er doch auf Schillers Standpunkt: ,,Meine Lebensaufgabe ist, deutsch zu schreiben, und ich bin der Ueberzeugung, dass niemand viel fremde Sprachen lesen kann, ohne den Takt für die feineren Abstufungen der eigenen, ein wesentliches Erfordernis für einen guten Stil, einzubüssen.“ Gleich einem Hypnotiseur sucht jede Sprache für ihren Sprachgeist zu werben und tötet den Takt für die feineren Abstufungen der Muttersprache. Jede Sprache entwickelt ihren eigenen Takt, und jeder normal Begabte hat vollauf zu tun, diesen seiner Muttersprache eigentümlichen Takt in seinem Stil auszubilden: ,,Takt" ist nun einmal eins der seltsamen Worte, die für ihr Gebiet nur in der Einzahl existieren. Man kann nicht ein Dutzend,,Takte" für das Sprachgebiet,,wie Ratten eines Rattenkönigs mit den Schwänzen aneinander binden.") Was sehen wir aber? Kaum ist man sich darüber klar geworden, dass durch das früher herrschende Lateinsprechen und Lateinschreiben der deutsche Stil nicht gerade günstig beeinflusst oder doch nicht vor Verkümmerung bewahrt worden ist, so ist man drauf und dran, denselben Sprachbetrieb, der dort schliesslich verurteilt wurde, hier beim Erlernen der neueren Sprachen wieder auf den Thron zu erheben, ja, noch zu überbieten, denn unserer Schulmänner ,,Ideal wäre, dass ein Deutscher, nach Frankreich oder England versetzt, sofort Parlamentsreden halten und Leitartikel in der Landessprache schreiben könnte, ohne dass einer den Ausländer merkte." Da nun nach B.'s Meinung die Hauptaufgabe der modernen Schule sein soll, lesen zu lernen, und zwar auch fremde Literaturen lesen zu lernen, so müssten die Anforderungen in den fremden Sprachen (bei den tausenderlei Anforderungen, die daneben an das Gehirn der modernen Menschheit gestellt werden) auf dieses Mindestmass beschränkt werden: fremdsprachliche Literatur jeder Gattung in der Ursprache verstehen zu lernen. Mehr nicht! Wie verhält es sich dann mit der andern Seite des Sprachverständnisses? Wie ermöglicht man es bei dieser ,,einseitigen" Spracherlernung (so will ich sie nennen, ohne dass diesem Wort ein Beigeschmack anhaften 1) Vgl. Zeitschrift III, 205. |