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Zur Würdigung

der Reflexion in der französischen Lektüre.

Die Erkenntnis des gesamten fremden Volkstums zum Ziele des Unterrichts in den neuen Sprachen zu machen, schien ein folgerichtiger Schluss aus der Definition der philologisch-historischen Wissenschaft. Ebenso folgerichtig schloss man weiter, dass die fremde Literatur im Unterricht nicht mehr Rücksicht verdiene, als ihrer Bedeutung im gesamten Leben des Volkes zukäme. Der Ruf der Literatursprache ward geschädigt. Die Bemühungen um einen Kanon wirkten mehr nivellierend und verbreiternd, als dass sie einigen wirklich kanonischen Büchern dauerndes Uebergewicht verschafften. Das Buch ward weniger geschätzt als das gesprochene Wort, und wo man es las, sollte es „Realien“ übermitteln oder einen Untergrund liefern für freie Uebungen, die in der Hand eines virtuosen Leiters auf dem Wege unbewusster" Imitation zu sicheren Fertigkeiten führten. — Und doch legte ein Blick in den Büchertornister eines Jungen oder in die Buchhändlerrechnung seines Vaters den Zweifel nahe, ob diese zur Schau getragene Missachtung der Literatur nicht Selbstbetrug war. Mochte man noch so radikal „réformieren", der Bücher wurden nicht weniger. Nur andere sind es geworden.

Was wir lehren, ist Literatur geblieben. Denn eines Menschen Kräfte reichen nur zur Erkenntnis des Allerzugäng lichsten aus und bedürfen einer von der Hinfälligkeit des eigenen Geistes unabhängigen Stütze. Beides ist die Literatur.

Dass man die Schullektüre in neuer Zeit daran hinderte, allzu stabil zu werden, war gerecht. Solche Bewegungen erfolgen meist erst, wenn sich ein Missverhältnis zwischen dem

Zeitschrift für franz. und engl Unterricht. Bd. IV.

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Fortschritt der fremden Literatur und seiner Berücksichtigung im Auslande herausgestellt hat, und tragen dann den Charakter einer Umwälzung, bis das Neue wieder stabil wird. Für ausländische Lektüre gibt das Ausland selbst die Gesetze.

Nicht nur die Auswahl, auch die Methode der Lektüre wird diesem Gesetz unterliegen, die zweite aber nur in beschränktem Masse. Eine Epoche der Literatur kann verwildern. Soll darum auch der Unterricht in dieser Literatur überall, wo sie gelehrt wird, in barbaries verfallen?

Wenn in neuerer Zeit die formale Seite des Unterrichts für die Lektüre so sehr in den Hintergrund trat, so hat vielleicht der Charakter der französischen Literatur hierbei zu sehr mitgesprochen. Nicht als ob man der gelehrten Kritik in Frankreich vorwerfen könnte, sie hätte Nachsicht in formalen Dingen geübt. Wer wollte dies etwa von Brunetière sagen? Aber niemand wird jener Zeit, die man die Zeit des „Realismus“ nennen könnte, ein merkliches Sinken des Schönheitssinnes und Stilgefühls absprechen. Wenigstens kamen die Hasser des „Journalismus“ in der Sprache damals nicht so deutlich zum Wort wie heute.

Frankreich hat den „Realismus“ wohl überwunden. Er aber ist es, der zurzeit unseren Unterricht inspiriert. Und wie verspätet wirkt er fort sogar in solchen Faktoren, die ihm zuerst am kräftigsten widerstanden, in den Direktiven der Unterrichtsverwaltung. Denn auch den Unsterblichen fährt das Entsetzen zuweilen in die Seele. Aber die Menge, die schon im eigenen Hause ewig gestrig ist, bleibt in den Dingen des Auslandes hinter diesem selbst um ein Menschenalter, gering gerechnet, zurück.

Einer der lautesten Vorwürfe der letzten Zeit erhebt sich gegen alles, was „Reflexion" heisst. Die Reflexion ist nicht nur nicht mehr das Ziel der Geistesbildung, sie soll geradezu ihr Hindernis sein. Reflexion in der Grammatik hindert am Sprechen, Reflexion im Lexikalischen ist überflüssiges Beiwerk, Reflexion in der Lektüre hindert die unmittelbare Erfassung und Wiedergabe. Vor allem aber richtet sie den Geist zu unnützen Kunststücken ab, während die Anschauung von selbst erworben wird, und endlich ist sie zu langsam in allem.

Die Literatur des sog. „Realismus" ist die rechte Literatur derer, die die Reflexion hassen.

Selbst unter den beliebtesten Schulschriftstellern sind wenige, deren Sprache vor einem strengen Richter besteht. Der Naturalismus suchte etwas darin, den Wortschatz aus der Rede des gemeinen Mannes zu bereichern, den Stoff durch Alltägliches zu beleben, vor allem aber, aus Syntax und Logik alles fernzuhalten, was nach ernster Kunstübung schmeckte. Das Frischeste und Kunstloseste war das Lebendigste, Klarheit und Tiefe frostig und überlebt.

Solchen Büchern entsprach die Art, wie man sie las. Gewiss muss zweierlei Literatur auch verschieden gelesen werden. Wer wollte an leichte Ware schwere Mühe verschwenden! Es schadete nichts, über den lebendigen, aber ungebundenen Sarcey hinwegzulesen. Sogar der Heros langsamer Arbeit, Zola, vertrug flüchtiges Lesen, wirkt er doch nur durch Gegenstände. Und bei Theuriet und vielen andern fühlte man sich höchstens durch unbekannte Vokabeln aufgehalten.

Dergleichen Schriftsteller zu übersetzen, konnten auch Anfänger des Verständnisses sich ersparen. Ueber ihren Inhalt referiert man bequem in der fremden Sprache, man schält exzerptartige Sätze heraus. Sie zu phrasieren, genügt die Sicherheit in einigen elementaren Redeformen. In dem Schriftsteller selbst hatte das unmittelbare Wort über die Reflexion gesiegt, der Unterricht durch ihn verpönte daher die Reflexion, weil sie nichts Neues erschloss, das nicht der flüchtige erste Blick gesehen hätte.

Um so mehr musste das auffallen, als auf jenem Gebiet, das die ältere Zeit als Domäne des Instinktiven angesehen hatte, der Aussprache, die moderne Methode die Reflexion über alles setzte, die Schulung des Gehörs durch feinste experimentelle Analysis der Laute, die Uebung des Artikulationsapparates ohne Hilfe der Gehörserinnerungen durch mehr mechanische Synthesen zu fördern suchte. Der im Reflektieren gereifte Verstand sollte sich in geistigen Dingen dem dunkeln Gefühl überlassen, der mit Gehör und Laut Begabte dagegen erhielt einen ausgezeichneten Taubstummenunterricht.

Dass die Reflexion in der Behandlung der Lektüre zurücktrat, konnte aber vorübergehen. Was blieb der Unterrichtsmethode zu tun, wenn die französische Literatur selbst wieder ihren Charakter änderte und Werke schuf, die sich ohne tiefere Reflexion nicht lesen liessen, den Stil sorgfältiger Kunstübung

zu Ehren brachten und auch ihrem Inhalt nach anderen Göttern anhingen als bisher. Sollte man diese Werke ignorieren, weil die deutschen Lehrpläne „endlich den berechtigten Forderungen“ nach praktischer Verwertung oder nach Realien des fremden Volkstums Rechnung getragen hatten?

Die Ueberwinder des Realismus in Frankreich, die Rostand, Maeterlinck, blieben der Schule fern, wenigstens hatten sie nichts, was nach Reaktion der Gelehrsamkeit aussah. In jüngster Zeit aber ist die Tendenz, die sich einmal vom Realismus entfernt hatte, nicht bei Romantik oder Symbolismus stehen geblieben, sondern hat sich mit einem Tone klassischer Schulgelehrsamkeit gefärbt. Aesthetische Symptome mannigfacher Art drängen sich hervor, die der verachteten Reflexion zur Herrschaft verhelfen wollen. Es sei gestattet, einzelne dieser Symptome an der Hand neuester Erscheinungen aufzuzählen.

Die

Die französische Rhetorik kommt wieder zu Ehren. Académie française krönt die beiden Werke von Rémy de Gourmont: La culture des idées und Problèmes du style mit dem prix Saintour, ebenso die Arbeiten von Albalat, den Rémy in denProblèmes zu widerlegen sucht. Beide Schriftsteller behandeln einen seit Quinctilian stehenden Schulstreit, die Bildung des Stiles durch Auswahl unter dem vorhandenen Sprachmaterial oder durch die freie Schöpferkraft der Phantasie in erschöpfender Weise, Rémy überdies mit weitestem Blick über die Weltliteratur. Cf. Figaro, 11. April 1904.

Die Kritik belletristischer Werke ferner geht mehr als bisher auf sprachliche Einzelheiten ein. Als Probe sei es erlaubt, einiger Urteile des sorgfältigen André Gide über Saint Georges de Bouhélier, einen jungen Vertreter der école naturiste, zu gedenken. Organ jener kunstmässigen Kritik ist besonders die Monatschrift L'ermitage, Paris, directeur Edouard Ducoté.

André Gide, Prétextes, Paris 1903, p. 224 ff. verurteilt Bouhéliers La route noire der form- und gedankenlosen Sprache

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Aeusserst lehrreich ist die lange Reihe von Zitaten, in denen er logische und grammatische Fehler findet. Es lohnt, etwa die Flüchtigkeit dagegen zu halten, mit der wir zurzeit französische Autoren in der summarischen Klassenlektüre behandeln, die sich mit direkter Auffassung begnügt. cherchez les puces du lion," wirft sich André Gide vor und sagt zu seiner Rechtfertigung: „Non, monsieur, je cherche un lion sous

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„Vous

les puces" (1. c. p. 229). Hier eine Reihe der handgreiflicheren Fehler, namentlich logischer Art, die andern sind teilweise recht verborgen, obwohl nicht minder verwerflich. Route noire p. 229: Quel mal faisait ce perroquet? En revanche, il mettait partout la gaîté. Oder: Le scorbut, la fièvre, les luttes ne les avaient pas épargnés les uns les autres. Oder: Son teint était rouge et compact etc. Nun ist aber Bouhélier gerade ein Autor nach dem Herzen derer, die in einem Buche Buntheit und Masse der Anschauungen schätzen. Wessen ein Poet bedürfe, spricht er selbst aus in der Revue naturiste, Dezember 1899: ...Ne jamais cesser de s'instruire dans toutes les matières possibles faire des voyages, voir des contrées, observer les mœurs des contrées les plus lointaines, comparer les flores, les parfums voilà quelques-uns des devoirs qui nous incombent." Zu dieser Auslassung fügt Gide hinzu: „En effet, monsieur de Bouhélier, il reste encore celui d'apprendre le français", Prétextes, p. 231 und ibid. p. 227: „O notre belle langue! Ecole des pensées! M. de Bouhélier ne sait pas le français."

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Nicht als Vademecum für einen Stümper, sondern als Zeichen des Kampfes zweier Grundanschauungen über Kunstübung in der Sprache interessiert uns jene Besprechung. Wenn es für den Künstler nicht nur auf das Studium des Materiellen und nicht nur auf urwüchsige Phantasie, sondern ebensosehr auf kritische Reflexion eines gebildeten Geschmacks ankommt, so liegt der Schluss nahe, dass zu eindringendem Verständnis durch Lektüre vielleicht noch mehr Reflexion gehören wird.

Ein anderes Symptom veränderter Ansichten hängt damit zusammen. Die Vorbilder und Quellen sind andere geworden. Zwei darunter beleuchten besonders scharf das allgemein nachgesprochene Dogma, man dürfe in der Schule nur Autoren lesen, die in das fremde Land und die fremden Sitten einführen. Die eine Quelle strömte der Literatur von jeher; aus ihr zu trinken, galt als Kriterium der Grösse. Man denke nur an die Jugend unserer deutschen Klassiker. Es ist die Bibel. Die andere hat auch nicht erst seit gestern die Welt befruchtet. Es ist das Buch von Tausend und einer Nacht. Dies erscheint zurzeit in einer Uebersetzung, die ihrer Schönheit und Vollständigkeit wegen die früheren in Schatten stellt und viel beachtet wird: Dr. J. C. Mardrus, Le Livre des Mille Nuits et une Nuit, traduction littérale et complète du texte arabe. - Für Frankreichs

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