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christlichen Gouverneurs, Georg Berowitsch, sodann zu einem förmlichen Interventionsgesuch der Türkei bei den europäischen Mächten vom 23. August und in allerneuester Zeit zu einer thatsächlichen Anerkennung einer kretensischen Selbständigkeit, vorläufig auf 5 Jahre führte, welche aber auch nicht das letzte Wort in dieser Sache sein wird. Ueber Kreta sagte Lord Palmerston schon 1830, es werde niemals zur Ruhe kommen, bis es schliesslich mit Griechenland vereinigt sei.

Nicht tributpflichtige Vasallen sind die Beys von Tunis und Tripolis (früher auch Algier) wovon jedoch der erstere, wie schon gesagt, durch den sogenannten Vertrag von Bardo, gegen den die Türken vergeblich protestirt hatten, französischer Unterthan geworden ist.

Tributpflichtige Vasallen sind: die Insel Samos, die eigentlich einen christlichen Fürsten hat ), der Libanon und das Fürstenthum Bulgarien, seit 1885 thatsächlich vereinigt mit dem ehemaligen General

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Ueber diese Punkte wurde vom 16. September bis zum 15. Oktober 1878 zwischen Mukhtar Pascha und den christlichen Deputirten verhandelt, bis schliesslich eine Vereinbarung zu Stande kam, die aber nie ausgeführt wurde. Die kretensische Nationalversammlung sollte nach der Konvention von Haleppa aus 80 Deputirten, 49 Christen und 31 Mohammedanern, sich zusammensetzen. Diese Zahl wurde später auf 57: 35 Christen und 22 Mohammedaner, reduzirt. In Folge von Reklamationen der Kretenser wurde sie nach dem vorletzten Aufstande wieder um 8 erhöht und sie beträgt gegenwärtig 65: 40 Christen und 25 Mohammedaner.

1) Die Insel Samos betheiligte sich s. 2. an dem griechischen Freiheitskampfe, wurde aber durch das Londoner Protokoll von 1830 bei der Türkei belassen, nur erhielten die Samioten das Recht, von einem christlichen Staathalter regiert zu werden, welcher den Tite] «Fürst» führt, und ebenso haben sie eine Art von Volksvertretung von 36 Abgeordneten für ihre inneren Angelegenheiten. Dagegen hält die Türkei eine Besatzung auf der Insel. Fürst von Samos war seit 1894 Georg Berowitsch, ein Albanese aus Skodra, der nun wieder nach Kreta versetzt worden ist, wo er schon früher als Untergouverneur fungirt hatte.

Gouvernement von Ostru melien, ein Verhältniss, das erst in diesem Jahre vom Sultan unter Zustimmung der Mächte des Berliner Vertrages definitiv anerkannt worden ist, aber gleichzeitig nun eine Rechtstellung dieses Landes zu Russland mit sich brachte, wie sie annähernd ähnlich in Tunis und Aegypten besteht. Es ist jetzt ein russisches Protektorat unter einem Erbstatthalter, mit scheinbarer Oberhoheit der Türkei und einem Tribut, der, wenn er nicht bezahlt wird, keine Exekution finden und wahrscheinlich früher oder später von Russland abgelöst werden wird.

Bloss nominell gehören zur Türkei : Kurdistan, Mesopotamien, die syrische Wüste, Nord- und Centralarabien mit Ausnahme der beiden h. Städte Mecca und Medina, die noch etwas enger mit ihr verbunden sind. Die dortigen Bevölkerungen, zum Theil völlige Nomaden, leben unter ihren eigenen patriarchalischen Stammfürsten, die nur etwa, wie der Scheikh des Nedschd in Arabien, zeitweise ein «Geschenk» (Pferde) an den Sultan zu schicken verpflichtet sind, ähnlich wie zum Beispiel bei uns die Urner noch lange Zeit eine mehrpfündige Wachskerze für das Livinenthal an den Dom von Mailand zu entrichten hatten. Die kurdischen Stämme werden als eine Art unregelmässiger und sehr undisziplinirter Kavallerie von der Türkei verwendet, ähnlich den früheren sogenannten Baschi-Bozuks.

Die Gestade und Häfen des rothen Meeres sind jetzt theilweise auch bereits von England, Frankreich und Italien besetzt worden, ohne die Türkei ernstlich darum zu befragen, die dort vorher eine nominelle Gebietsherrschaft besass. Der jetzige Feldzug der Engländer im Sudan wird diese Ablösung definitiv befestigen.

In Armenien wird, wie in Kreta, eine christliche Verwaltung unter einer Oberaufsicht der europäischen Mächte angestrebt'); ebenso haben im Libanon und im lauran noch jüngst neue Aufstände der Drusen stattgefunden. In Palästina wird von Frankreich, wie von Russland, eine Art von Aufsicht über die christlichen Heiligthumsstätten und ein Schutzrecht über die dahin wallfahrenden lateinischen und slavischen Pilger beansprucht, das beide Mächte zeitweise bis zu einer Art von Protektorat über die christliche Bevölkerung der Türkei auszudehnen versuchten.

Endlich sind die Bergvölker von Albanien, die, ohne ganz bestimmte lokale Abgränzungen, zum Theil christlich, zum Theil mohammedanisch sind, schon vor längerer Zeit in eine Art von Eidgenossenschaft zusammengetreten, die augenblicklich zwar latent geworden ist, aber nur den geeigneten Moment abwartet, um einen ganz in der Weise unserer alten Eidgenossenschaft konstituirten selbständigen Staatenbund von kleinen Staaten in's Leben treten zu lassen. Es ist dies der wenig bekannte Vertrag von Prizrend, der in der einen eidgenössischen Festschrift von 1891 abgedruckt ist.?) An den griechischen Gränzen und auf den türkischen Inseln des Aegäischen Meeres bestehen Tendenzen nach Vereinigung mit dem griechischen Staatswesen, welche bei einer grösseren militärischen und finanziellen Kraft desselben schon lange zur Einverleibung von Thessalien, Makedonien und eines Theils des alten Epirus geführt haben würden.

1) Vgl. darüber den Artikel 61 des Berliner-Vertrags in den Beilagen. Ein armenisches Comité und überhaupt eine armenische geheime Organisation, in der Art der italienischen Carbonari- oder Camorra-Gesellschaften, besteht schon seit längerer Zeit und wurde früher «Huntschak» genannt. Die Türken schreiben dem Wirken dieser Gesellschaft alle Uebel ihres sinkenden Reiches zu, daher ihre Erbitterung gegen die Armenier.

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2) Hilty, die Bundesverfassungen der schweizerischen Eidgenossenschaft,

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Komplizirt wird die staatsrechtliche Situation der Türkei noch dadurch, dass der Sultan seit der Eroberung Aegyptens und dem Tode des letzten ägyptischen Chalifen (1538), als Nachfolger desselben, der Chef der mohammedanischen Religion ist '). Dadurch wird auch die Stellung Englands zu ihm beeinflusst, indem die Königin von England die meisten mohammedanischen Unterthanen besitzt (mehr als die Türkei selber), auf deren religiöse Gefühle die englische Regierung grosse Rücksicht zu nehmen hat. England ist demzufolge eigentlich der natürliche Beschützer der Türkei und würde es noch weit mehr sein, wenn die Engländer eine Landmacht besässen, die es mit Russland aufnehmen könnte, und überhaupt in ihrer Politik entschiedener wären, in welcher die Ilandelsinteressen stets vorwiegen und die rechte Thatkraft fehlt, wo es grosse, civilisirte Gegner betrifft. Die englische Politik gegenüber Russland ist daher ein beständiges Ausweichen des Kampfes, wenn nicht Andere dafür mit in's Feld geführt werden können, wobei Russland, durch blosses ausdauerndes Beharren auf seinen Forderungen, mit zeitweiser kluger Vertagung derselben, schliesslich stets im Vortheil ist. An dieser allzu nachgiebigen Politik haben die beiden abwechselnd herrschenden parlamentarischen Parteien ziemlich gleichen Antheil, da sie eben

1) «Chalif» heisst «Nachfolger» (des Propheten); daher nennt sich der jetzige Chef des Sudan auch so. Dieser und der Schah von Persien anerkennen das Chalifat des türkischen Sultans nicht, doch besteht in Persien gerade gegenwärtig wieder cine Bewegung zu Gunsten desselben, um die religiöse Einheit der mohammedanischen Welt herzustellen. Es fand vor kurzer Zeit in Konstantinopel eine solche Konferenz afghanisch-persischer Gelehrter und Staatsmänner, worunter der persische Generalkonsul in der Türkei selbst war, statt. Natürlich gegen den Willen des persischen Herrschers, der ihre Auslieferung verlangte. Der gegenwärtige Sultan ist so eifrig bemüht eine Glaubenseinheit in der mohammedanischen Welt zu erzielen, wie der jetzige Papst in der christlichen.

durch die sehr ungenügende militärische Machtstellung Englands, in Folge des Fehlens einer allgemeinen Dienstpflicht, begründet ist. Immerhin ist die konservative Partei seit Disraeli und Salisbury die etwas thatkräftigere gewesen; weder Gladstone noch Roseberry würden den jetzigen Feldzug im Sudan gewagt haben; der erstere gah sogar s. Z. Gordon auf eine für Englands Ehre geradezu nachtheilige Weise auf.

Als besondere Ursachen der staatlichen Schwäche der Türkei sind noch folgende zu betrachten: 1) dass der herrschende Volkssta mm, die Türken oder Osmanen, nicht sehr zahlreich im Verhältniss zur Gesammtbevölkerung und über die ganze Monarchie zerstreut ist, 2) dass die Gesetzgebung dieses Staates allzu unmittelbar mit der Religion desselben verbunden ist (wie dies ehemals im jüdischen Staate der Fall war), so dass der Koran Gesetzbuch und Religionsbuch zugleich ist, wobei diese regellose Sammlung von zum Theil gänzlich unbrauchbaren Vorschriften mit den Verhältnissen eines modernen civilisirten Staatswesens nicht in Einklang zu versetzen ist. Das hat u. A. zur Folge, dass die nicht mohammedanischen Bevölkerungen der Türkei eine staatsrechtliche Anomalie sind – da der Koran nur mohammedanische Staatsangehörige kennt

und daher früher als eine blosse rechtlose Heerde (Rayah) und gar nicht als Staatsbürger angesehen wurden, seitdem das aber nicht mehr durchgeführt werden kann '), nun in allen ihren Religionsbeziehungen völlig frei vom Staate geworden sind und ganz naturgemäss

1) Der Koran ist die Grundlage sowohl der Staats- und Gesellschaftsordnung, wie der gesammten Gesetzgebung und Justizpflege. Keine Gesetze und Verordnungen dürfen ihm widersprechen und jeder Gesetzesentwurf muss daher dem obersten Gelehrten dieser Theologie, dem Scheich ul Islam, zur Prüfung und Plazetirung unterbreitet werden.

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