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Mächte angestrebt 1); ebenso haben im Libanon und im Hauran noch jüngst neue Aufstände der Drusen stattgefunden. In Palästina wird von Frankreich, wie von Russland, eine Art von Aufsicht über die christlichen Heiligthumsstätten und ein Schutzrecht über die dahin wallfahrenden lateinischen und slavischen Pilger beansprucht, das beide Mächte zeitweise bis zu einer Art von Protektorat über die christliche Bevölkerung der Türkei auszudehnen versuchten.

Endlich sind die Bergvölker von Albanien, die, ohne ganz bestimmte lokale Abgränzungen, zum Theil christlich, zum Theil mohammedanisch sind, schon vor längerer Zeit in eine Art von Eidgenossenschaft zusammengetreten, die augenblicklich zwar latent geworden ist, aber nur den geeigneten Moment abwartet, um einen ganz in der Weise unserer alten Eidgenossenschaft konstituirten selbständigen Staatenbund von kleinen Staaten in's Leben treten zu lassen. Es ist dies der wenig bekannte Vertrag von Prizrend, der in der einen eidgenössischen Festschrift von 1891 abgedruckt ist.2) An den griechischen Gränzen und auf den türkischen Inseln des Aegäischen Meeres bestehen Tendenzen nach Vereinigung mit dem griechischen Staatswesen, welche bei einer grösseren militärischen und finanziellen Kraft desselben schon lange zur Einverleibung von Thessalien, Makedonien und eines Theils des alten Epirus geführt haben würden.

1) Vgl. darüber den Artikel 61 des Berliner-Vertrags in den Beilagen. Ein armenisches Comité und überhaupt eine armenische geheime Organisation, in der Art der italienischen Carbonari- oder Camorra-Gesellschaften, besteht schon seit längerer Zeit und wurde früher «Huntschak» genannt. Die Türken schreiben dem Wirken dieser Gesellschaft alle Uebel ihres sinkenden Reiches zu, daher ihre Erbitterung gegen die Armenier.

2) Hilty, die Bundesverfassungen der schweizerischen Eidgenossenschaft, pag. 34.

Komplizirt wird die staatsrechtliche Situation der Türkei noch dadurch, dass der Sultan seit der Eroberung Aegyptens und dem Tode des letzten ägyptischen Chalifen (1538), als Nachfolger desselben, der Chef der mohammedanischen Religion ist 1). Dadurch wird auch die Stellung Englands zu ihm beeinflusst, indem die Königin von England die meisten mohammedanischen Unterthanen besitzt (mehr als die Türkei selber), auf deren religiöse Gefühle die englische Regierung grosse Rücksicht zu nehmen hat. England ist demzufolge eigentlich der natürliche Beschützer der Türkei und würde es noch weit mehr sein, wenn die Engländer eine Landmacht besässen, die es mit Russland aufnehmen könnte, und überhaupt in ihrer Politik entschiedener wären, in welcher die Handelsinteressen stets vorwiegen und die rechte Thatkraft fehlt, wo es grosse, civilisirte Gegner betrifft. Die englische Politik gegenüber Russland ist daher ein beständiges Ausweichen. des Kampfes, wenn nicht Andere dafür mit in's Feld geführt werden können, wobei Russland, durch blosses ausdauerndes Beharren auf seinen Forderungen, mit zeitweiser kluger Vertagung derselben, schliesslich stets im Vortheil ist. An dieser allzu nachgiebigen Politik haben die beiden abwechselnd herrschenden parlamentarischen Parteien ziemlich gleichen Antheil, da sie eben

1) «Chalif» heisst «Nachfolger» (des Propheten); daher nennt sich der jetzige Chef des Sudan auch so. Dieser und der Schah von Persien anerkennen das Chalifat des türkischen Sultans nicht, doch besteht in Persien gerade gegenwärtig wieder eine Bewegung zu Gunsten desselben, um die religiöse Einheit der mohammedanischen Welt herzustellen. Es fand vor kurzer Zeit in Konstantinopel eine solche Konferenz afghanisch-persischer Gelehrter und Staatsmänner, worunter der persische Generalkonsul in der Türkei selbst war, statt. Natürlich gegen den Willen des persischen Herrschers, der ihre Auslieferung verlangte. Der gegenwärtige Sultan ist so eifrig bemüht eine Glaubenseinheit in der mohammedanischen Welt zu erzielen, wie der jetzige Papst in der christlichen.

durch die sehr ungenügende militärische Machtstellung Englands, in Folge des Fehlens einer allgemeinen Dienstpflicht, begründet ist. Immerhin ist die konservative Partei seit Disraeli und Salisbury die etwas thatkräftigere gewesen; weder Gladstone noch Roseberry würden den jetzigen Feldzug im Sudan gewagt haben; der erstere gab sogar s. Z. Gordon auf eine für Englands Ehre geradezu nachtheilige Weise auf.

Als besondere Ursachen der staatlichen Schwäche der Türkei sind noch folgende zu betrachten: 1) dass der herrschende Volksstamm, die Türken oder Osmanen, nicht sehr zahlreich im Verhältniss zur Gesammtbevölkerung und über die ganze Monarchie zerstreut ist, 2) dass die Gesetzgebung dieses Staates allzu unmittelbar mit der Religion desselben verbunden ist (wie dies ehemals im jüdischen Staate der Fall war), so dass der Koran Gesetzbuch und Religionsbuch zugleich ist, wobei diese regellose Sammlung von zum Theil gänzlich unbrauchbaren Vorschriften mit den Verhältnissen eines modernen civilisirten Staatswesens nicht in Einklang zu versetzen ist. Das hat u. A. zur Folge, dass die nicht mohammedanischen Bevölkerungen der Türkei eine staatsrechtliche Anomalie sind - da der Koran nur mohammedanische Staatsangehörige kennt

und daher früher als eine blosse rechtlose Heerde (Rayah) und gar nicht als Staatsbürger angesehen wurden, seitdem das aber nicht mehr durchgeführt werden kann 1), nun in allen ihren Religionsbeziehungen völlig frei vom Staate geworden sind und ganz naturgemäss

1) Der Koran ist die Grundlage sowohl der Staats- und Gesellschaftsordnung, wie der gesammten Gesetzgebung und Justizpflege. Keine Gesetze und Verordnungen dürfen ihm widersprechen und jeder Gesetzesentwurf muss daher dem obersten Gelehrten dieser Theologie, dem Scheich ul Islam, zur Prüfung und Plazetirung unterbreitet werden.

damit unter einer Art von Protektion ihrer christlichen Glaubensgenossen in anderen Staaten, dermalen vorzugsweise Russlands, stehen.

Dieses Staatsgrundgesetz widerspricht der Rechtsgleichheit der Ungläubigen mit den Gläubigen so sehr, dass noch jetzt nur Mohammedaner in die Armee eingereiht werden, was jeden Krieg mit einer christlichen Macht sofort zu einer Art von Religionskrieg stempelt. Die nichtmohammedanische männliche Bevölkerung bezahlt eine Kriegssteuer, eine Art von " Militärpflichtersatz», die früher ein eigentliches jährliches Lösegeld für jeden Kopf war. Ebenso sind die Grund- und Bodenverhältnisse nach türkischem Recht sehr mittelalterlich und spielen dabei die Kirchengüter (Wakuf) und das Eigenthum der todten Hand (Mahlul) überhaupt eine grosse Rolle. Das freie Eigenthum (Mülk) ist sehr beschränkt, ein grosser Theil des ganzen Grund und Bodens ist Pacht und Erbpacht, oder Nutzniessung (Tapu). Von einem eigentlich systematischen Civilrecht ist in allen diesen Beziehungen kaum zu sprechen. Auch das ist aus Religionsgründen nicht zu ändern; jeder Versuch in dieser Richtung würde an dem Widerstande der fanatischen Ulema's und Softa's scheitern.

Eigenthümlich ist dem türkischen Staatswesen auch, dass das herrschende Volk dieses Völker-Conglomerats, die Türken, gar nicht mehr aus lauter Angehörigen des ursprünglichen türkischen Volksstammes bestehen, sondern zum grossen Theil aus zum Islam bekehrten ganz anderen Völkerschaften. Und dass andererseits die Gesammtheit dieser jetzigen Türken den andern Völkerschaften des Reichs und zwar nicht etwa bloss den christlichen, sondern auch den mohammedanischen an Bildung nachsteht. Ja es ist sogar das ganz einzig dastehende Verhältniss seit dem Aufhören des ägyptischen Chalifats vorhanden, dass die Begründer und eigentlichen historischen Träger des Mohammedanismus, auf dem die ganze türkische Herrschaft der Idee nach beruht, und die einzigen Besitzer seiner Litteratur, Wissenschaft und Kunst, die Araber, eigentlich ebenfalls ein politisch unterdrücktes Volk sind. Auch die Perser, die eine reiche Litteratur haben, betrachten die Türken als ein Volk ohne einen höheren Anspruch auf die Herrschaft und erste Rolle in der mohammedanischen Welt, als den der Gewalt. Die eigentlich türkische Litteratur ist gering und besteht meistens aus Nachahmungen arabischer und persischer Werke. Der Hattischerif von Gülhane und der Hatti-Humajun sind die allerersten türkischen staatsrechtlichen Schriften von gebildeter Form. Nicht einmal ihre Sprache haben die Türken gehörig ausgebildet; sie ist auch auf Anlehen aus dem Arabischen angewiesen geblieben. Selbst die türkische Schrift ist die arabische, mit etwas eigenthümlicher Buchstabenform.

Alles das sind Verhältnisse, die nicht geändert werden können. Die jeweilige türkische Regierung befindet sich in der Nothlage, dass sie aus Religionsgründen und vermöge der Natur ihrer Bevölkerungen sich weder völlig civilisiren kann, noch ihren mittelalterlichen Staat in so naher Berührung mit der modernen Welt aufrecht zu halten im Stande ist, wozu sie jetzt auch nicht einmal mehr die hinreichenden finanziellen und militärischen Machtmittel besitzt. Es ist daher wahr, was mitunter, von russischer Seite her namentlich, betont zu werden pflegt, dass ein mohammedanischer Staat wenigstens in Europa selber eine Anomalie ist1). Der Krieg von 1877/78 ist ihre letzte selbständige Anstrengung gewesen. Ein künftiger Krieg könnte nur noch in altbarbarischer (dem Koran aber eigentlich entsprechender) Weise durch Wachrufen des mohammedanischen Fanatismus geführt werden, was das sichere Ende des Staates herbeiführen würde, oder mit Alliirten, welche zuletzt mit dem Gegner auf ihre Kosten Frieden schliessen würden.

Es besteht daher die türkische Politik schon seit ungefähr einem Jahrhunderte wesentlich darin, den Zusammenbruch möglichst hinauszuschieben, worin die türkische Diplomatie eine Art von Meisterschaft erlangt hat, die auch dem Naturell ihrer Regenten und Staats

1) Es ist übrigens keineswegs bloss die mohammedanische Religion, die allerdings aus einem sonderbaren Gemisch von zum Theil erhabenen und grobsinnlichen Gedanken besteht, welche die islamitischen Staaten reformunfähig macht, sondern ganz besonders die Sinnlichkeit dieser Völker und die damit eng verbundene traurige Stellung des weiblichen Geschlechts. Die Einführung einer monogamischen Ehe als bindendes Gesetz wäre der grösste Fortschritt, den die Türkei machen könnte. Kräftig ist dort nur das einfache, gewöhnliche Volk, welches thatsächlich so lebt, die herrschende Klasse ist verderbter.

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