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in einer Folge von organischen Krisen. Das schöpferische Energiezentrum durchbricht immer neue Schichten der hemmenden Materie. Mit jedem solchen Durchbruch gewinnt Balzac eine neue konzentrische Sphäre seiner Macht, mit jedem ist ein Inspirationserlebnis verknüpft.

Begreiflicherweise wissen wir von diesen Momenten der Inspiration wenig. Aber einige Berichte sind uns aufbewahrt. Im Sommer 1833 zuckt plötzlich in ihm der Gedanke auf, seine Romane zu einem großen Gesamtsystem, D zu einem Kosmos zusammenzuschließen. Seine Schwester

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erzählt: „Der Tag, an dem er von dieser Idee erleuchtet wurde, war ein schöner Tag für ihn. Er bricht von der Rue Cassini (Balzacs Wohnung) auf und eilt zum Faubourg Poissonnière, wo ich damals wohnte: Grüßt mich, sagte er freudig zu uns, denn ich bin ganz einfach im Begriff, ein Genie zu werden."

Die Parallele zu diesem Bericht findet sich in Balzacs

ne Novelle,Le Chef-d'oeuvre inconnu". Der junge Poussin

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stürzt durch die Straßen von Paris zu seiner Geliebten. „Sie hatte den Maler erkannt an der Art wie er die Tür

klinke gepackt hatte. Was hast du? sagte sie zu ihm.

Ich habe ... ich habe ..., rief er, fast erstickt von Seligt keit, daß ich den Maler in mir gespürt habe. Bisher hatte

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ich

an mir gezweifelt, aber seit heute morgen glaube ich an mich! Ich kann ein großer Mann werden."

Ein jahrelanges Ringen, das sich dann plötzlich in einem Moment der Inspiration siegreich löst das ist die Form, in der Balzac das Schöpfertum erlebt hat. Im Großen und im Kleinen. Seinen „Louis Lambert" z. B. wollte er krönen

durch eine kurze Zusammenfassung seiner metaphysischen Grundanschauungen. Aber er konnte die Form und die Formeln dafür nicht finden. Erst in der dritten Auflage (1835) findet man diesen Abschluß: fünfzehn spekulative Axiome, die durch Kursivdruck hervorgehoben wurden. Wie war es gelungen? Balzac besuchte 1835 den Fürsten Felix Schwarzenberg in Weinheim. Der Fürst hatte als österreichischer Attaché in London 1828 eine Dame der englischen Aristokratie verführt und deswegen London verlassen müssen. In dem schön gelegenen Städtchen an der Bergstraße hatte er ein Buen Retiro gefunden. Dort suchte Balzac ihn auf. Aber der „elende Fürst“ hat ihn im Garten sitzen lassen,,während der fünf Stunden, die er mit seiner Maitresse verbracht hat“. Sie waren indes für Balzac trotz seines Ärgers nicht verloren. Denn dort im Schloßgarten von Weinheim hat er „geschrieben, gefunden, was ich während sieben Jahren gesucht habe: die Kursivsätze am Ende von Louis Lambert".

Das Schöpfertum jeder Art deutet Balzac nach seiner eigenen Erfahrung als den Durchbruch lange aufgestauter Energien. Aber er gelingt nicht immer. So sagt Louis Lambert: „Ich fühle mich stark, energisch, und ich könnte eine Macht werden; ich fühle in mir ein Leben von solcher Leuchtkraft, daß es eine Welt beseelen könnte, und da bei bin ich eingeschlossen wie in ein Gestein." Wo die Schöpferkraft die einschließenden Gesteinsmassen nicht zu zersprengen vermag, da wendet sie sich gegen das Innere zurück und zerstört den Geist. Lambert endet im Wahnsinn. Balzac mag manchmal nahe an diesem düstern

Bezirk gewesen sein, oft diese Drohung gespürt haben. Er ist ihr entgangen, aber sie ist in seinem Werk vertreten durch die Gruppe der entgleisten Genien, deren schöpferische Leidenschaft im Wahn untergeht.

Wenn Balzacs Grundgeheimnis die innere Vision des Lebensbeginns ist, so ist ihm das geistige Schöpfertum nur eine andere Form, in der dies erste Geheimnis wiederkehrt. Denn für ihn ist Schöpfung ja nichts anderes als Deutung, Sichtbarmachung, Entzifferung, Entäußerung der inneren Vision. Von seinem eigenen Schaffen spricht er gern wie von einem Geheimnis. „Es bedarf nur der Arbeit, heißt es in einem seiner Briefe, und des Getragenseins von einem Etwas, das ich in mir fühle: still davon!" Der Genius ist für ihn ein Mysterium. „Haben diese Menschen die Fähigkeit, das Weltall in ihr Gehirn hineinzubannen oder ist ihr Gehirn ein Talisman, mit dem sie die Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft setzen?... Die Wissenschaft wird zwischen diesen beiden gleich unerklärlichen Mysterien lange schwanken. Jedenfalls aber steht fest, daß die Eingebung dem Dichter zahllose Verwandlungen entrollt, die den magischen Phantasiebildern unserer Träume gleichen. Ein Traum ist vielleicht die natürliche Ablaufsform dieser seltsamen Macht, wenn sie unbeschäftigt ist... Die staunenswerten Fähigkeiten, welche die Welt mit Recht bewundert, besitzt der Schriftsteller in höherem oder geringerem Maße vielleicht entsprechend der größeren oder geringeren Vollkommenheit oder Unvollkommenheit seiner Organe. Vielleicht aber ist die Gabe der Schöpferkraft auch ein schwacher

Funke, der von oben auf den Menschen herabfällt, und die Anbetung, die den großen Genien geschuldet wird, wäre dann ein edles und hohes Gebet! Wenn dem nicht so wäre, warum würde dann unsere Ehrfurcht sich nach der Kraft, der Intensität des himmlischen Strahls bemessen, der in ihnen leuchtet?... Möge jeder zwischen dem Materialismus und dem Spiritualismus wählen!" 1)

Diese Sätze schrieb Balzac 1831. Im gleichen Jahre hörte er Paganini. „Das außerordentliche Wunder, das mich in diesem Augenblick in Paris überrascht, ist das, welches Paganini zu bewirken weiß. Glaubt nicht, daß es sich um seinen Bogen, um seinen Fingersatz, oder um die fantastischen Töne seiner Geige handle... In diesem Menschen ist zweifellos etwas Geheimnisvolles... Paganini scheint mir der Napoleon dieser Gattung."

Im Phänomen der Genialität fand Balzac das Myste rium seines ersten Erlebens wieder. Aber beide Formen des Mysteriums waren doch nur zu begreifen als Hinweise auf einen tieferen und weiteren Zusammenhang: wenn die Hieroglyphen des Mysteriums dem Leben und der Kunst eingeprägt waren, so bedeutete das, daß der Weltgrund selber Mysterium war. Das Geheimnis muß für den Wissenden an jedem Punkt des Seins zu spüren sein, weil es die Wurzel alles Seins ist. Das Höchste, was des Menschen Sinn vermag, ist: im ganzen Bereich der

1) Die Psychologen haben heute noch die gleiche Wahl. Dr. Cabanès, der sich im übrigen um die Kenntnis Balzacs große Verdienste erworben hat, erklärt Balzacs Genialität durch,,willentliche Halluzination".

Natur und der Geschichte diesen Mysterien-Charakter des Daseins wiederzuerkennen, und bei allem Forschen und Finden in der Wirklichkeit die Ahnung von dem großen Geheimnis der Welt zu bewahren. Das Bewußtsein davon ist der Menschheit eingesenkt und hat von je ihre höchsten Geister verbunden. Auch bei Balzac finden wir, wenn auch manchmal in getrübter oder verzerrter Form, dieses Bewußtsein wieder. Der Ursprung und das Endziel alles Geschehens ist für ihn Mysterium. Seine Geschichtsphilosophie geht aus von dem Geheimnis der Vorsehung ,,der Sinn dieser Epoche ist den D meisten ihrer Träger verborgen: sie sind Räder in einer großen Maschine, deren Zweck sie nicht kennen" gipfelt in der Andeutung des Mysteriums Europa: „la grande famille continentale, dont tous les efforts tendent à je ne sais quel mystère de civilisation". Noch deutlicher 1 prägt sich Balzacs Bewußtsein vom Weltgeheimnis in seiner Naturanschauung aus: sie ist magisch; und in seiner Religiosität: sie ist mystisch.

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Vom Gehalt der Balzacschen Magie und Mystik wird später zu reden sein. Ihre allgemeinste Formel hängt indes so eng mit Balzacs Schöpfergeheimnis zusammen, daß sie als Voraussetzung für das Verständnis seines Werkes überhaupt gelten kann. Es ist die alte Formel: Ursache und Wirkung; die Formel des Aristoteles, der Scholastik, der Renaissance- und der Aufklärungsphilosophie. Bei Balzac dient sie als Ausdruck für alle Beziehungsformen zwischen Gott und Welt, Innen und Außen, Wesen und Erscheinung, Wille und Werk, Sinn und Gestalt. Alles,

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